Voll im Bilde
natürlich nicht jeden Tag, daß sie auf ein gewaltiges, durch die Stadt trampelndes Abbild ihrer selbst stieß.
»Es benutzt die Magie von Holy Wood«, betonte sie noch einmal. »Und deshalb muß es sich an die Regeln von Holy Wood halten. Es hört nichts und fühlt nichts. Es kann nur sehen. Was es sieht, wird zur Wirklichkeit. Und Okto-Zellulose fürchtet in erster Linie Feuer.«
Die riesige Ginger stand nun mit dem Rücken zum Kunstturm.
»Das wär’s«, meinte Schnapper. »Jetzt sitzt das Biest in der Falle.«
Das Ding blinzelte und starrte zu den heranrückenden Flammen.
Es drehte sich um. Es hob die freie Hand. Und es kletterte am Turm empor.
Victor stieg ab und konzentrierte sich nicht mehr. Das Pferd verschwand.
Trotz der Panik blieb in seinem emotionalen Kosmos genug Platz für hämische Freude. Wenn sich die Zauberer mehr Streifen angesehen hätten – dann wüßten sie nun, worauf es ankam.
Die minimale Bildfrequenz. Selbst die Wirklichkeit hatte eine. Wenn man etwas erschaffen konnte, das nur für einen Sekundenbruchteil von Bestand blieb, bedeutete das nicht, daß man versagt hatte. Es bedeutete nur, daß man es wieder und immer wieder erschaffen mußte.
Victor huschte an der Mauer des Turms entlang, blickte zum kletternden Ungeheuer hoch – und stolperte über einen Gegenstand aus Metall. Das Objekt stellte sich als der Spieß des Bibliothekars heraus. Einige Meter dahinter lag das Ende eines langen Seils in einer Pfütze.
Tugelbend überlegte kurz, nahm dann die Lanze, schnitt ein Stück vom Seil ab und befestigte es so am Spieß, daß er ihn sich über die Schulter schlingen konnte.
Anschließend griff er nach dem Seil, zog versuchsweise daran und…
Victor spürte einen auffallenden Mangel an Widerstand und wich gerade noch rechtzeitig beiseite. Mehrere Dutzend Meter nasses Seil knallten neben ihm aufs feuchte Pflaster.
Verzweifelt hielt er nach einem anderen Weg zur Turmspitze Ausschau.
Onkel und Neffe Schnapper beobachteten mit offenem Mund, wie das Ding kletterte. Es bewegte sich nicht sehr schnell, und gelegentlich klemmte es den Bibliothekar zwischen zwei Streben, um nach dem nächsten Halt zu tasten.
»Oh, ja«, hauchte Soll. »Ja. Ja. Was für ein Streifen! Das nenne ich wahre Kinematographie!«
»Eine riesige Frau, die mit einem schreienden Affen in der Hand an einem großen Gebäude emporkraxelt«, seufzte Schnapper. »Und wir brauchen nicht einmal Honorar für die Schauspieler zu bezahlen!«
»Ja«, bestätigte Soll.
»Ja…«, sagte Schnapper. Ungewißheit schlich sich in seine Stimme.
Solls Gesicht offenbarte so etwas wie Sehnsucht.
»Ja«, wiederholte er. »Äh.«
»Ich weiß, was du meinst«, murmelte Schnapper.
»Es ist… Ich meine, es ist großartig, aber… Nun, ich habe das Gefühl…«
»Etwas stimmt nicht«, sagte Schnapper schlicht.
»Nein, nein«, widersprach Soll und ruderte mit den Armen. »Es ist alles in Ordnung. Zumindest in gewisser Weise. Ich meine nur, etwas fehlt…« Er suchte vergeblich nach den richtigen Worten.
Der Neffe seufzte. Der Onkel seufzte ebenfalls.
Donner grollte.
Und vom Himmel raste ein Besen herab, auf dem zwei schreiende Zauberer hockten.
Victor öffnete die Tür des Kunstturms.
Dunkelheit erwartete ihn, und er hörte Regenwasser, das vom hohen Dach tropfte.
Es hieß, der Kunstturm sei das älteste Gebäude der ganzen Scheibenwelt. So sah er auch aus. Er diente längst keinem besonderen Zweck mehr, und die Holzböden der einzelnen Etagen waren verfault und verrottet. Das Innere enthielt praktisch nur noch die Treppe.
Sie formte eine lange Spirale und bestand aus in den Mauern eingelassenen Steinplatten. Einige von ihnen hatten sich dem allgemeinen Schutt im Erdgeschoß hinzugesellt. Der Aufstieg war selbst im hellen Tageslicht gefährlich.
In der Finsternis… Unmöglich.
Hinter Victor ging die Tür auf, und Ginger kam herein, gefolgt vom Kurbeldreher Gaffer.
»Nun?« fragte sie scharf. »Beeil dich. Du mußt das arme Tier retten.«
»Den Affen«, sagte Tugelbend geistesabwesend.
»Meinetwegen.«
»Es ist zu dunkel«, fügte Victor hinzu.
»In den beweglichen Bildern ist es nie zu dunkel«, erwiderte Ginger kategorisch. »Denk darüber nach.«
Sie bohrte dem Kurbeldreher den Ellenbogen in die Rippen, und daraufhin sagte Gaffer hastig: »Sie hat recht. Da ist es nie zu dunkel. Kein Wunder: Man braucht genug Licht, um die Dunkelheit zu sehen.«
Victor starrte in die Finsternis, drehte dann den Kopf
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