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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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erwarten, da die Tarifpartner seit den 1970er-Jahren erheblich an Marktmacht verloren haben. So sind heute weniger als ein Fünftel der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert – gegenüber einem Drittel am Ende der 1970er-Jahre. 59 Auch die Macht der Arbeitgeberverbände hat deutlich abgenommen. So ist der Flächentarifvertrag in Ostdeutschland längst eher die Ausnahme als die Regel; und auch im Westen des Landes hat es eine starke Zunahme betrieblicher Vereinbarungen außerhalb des Tarifkartells gegeben. Ein Lohnanstieg der Zukunft wird deshalb anders aussehen als der Lohnanstieg vor vier Jahrzehnten. Er wird sich – viel stärker als früher – Zug um Zug aus den Märkten selbst heraus entwickeln. Am ehesten ließen sich Vorbilder in der Zeit der Wilhelminischen Boomphase vor dem Ersten Weltkrieg finden, allerdings mit dem großen Unterschied, dass es damals noch überhaupt keine Tarifverträge gab und auch nach dem Erreichen der Vollbeschäftigung die demografische Entwicklung sowie die Zuwanderung von den ländlichen Räumen in die Städte und vom Aus- ins Inland durchaus noch für eine gewisse „Elastizität“ des Arbeitsangebots sorgten. Entsprechend moderat fielen die Lohnsteigerungen aus. 60 Diese Elastizität wird es in der Zukunft nicht mehr geben können.
    Die deutsche Wirtschaftsgeschichte ist demnach als Orientierungshilfe für den künftigen Lohnanstieg nicht sonderlich ergiebig. Es bleibt deshalb weitgehend Spekulation, wie sich der Prozess genau abspielen könnte – unter völlig neuen, bisher nicht gekannten Bedingungen. Ein plausibles Szenario mag wie folgt aussehen. Es wird in bestimmten Berufssparten und Arbeitsbereichen schon sehr frühzeitig zu extremen Knappheiten kommen. Kandidaten dafür sind Ärzte in Krankenhäusern und Ingenieure in Industriebetrieben, die hoch qualifizierte und schwer ersetzbare Tätigkeiten ausführen und in der ausscheidenden Babyboomer-Generation stark vertreten sind. Hinzu kommen jene eher unauffälligen Jobs, die an Schlüsselstellen der Wirtschaft und Gesellschaft eine gewisse Monopolmacht haben, was gar nicht unbedingt auf ein besonders hohes Qualifikationsniveau zurückzuführen sein muss. Dies waren bisher etwa Fluglotsen und Lokomotivführer. In der Zukunft einer alternden Gesellschaft mit hoher Erwerbsbeteiligung der Frauen könnten dies aber durchaus auch Alten- und Krankenpfleger sowie Kinderbetreuer sein, zumal diese heute in der Gehaltsskala noch sehr niedrig stehen. Der Lohnanstieg mag sich dabei direkt über den Markt oder auch durch den Druck kleiner Gewerkschaften vollziehen, die entweder neu entstehen oder sich aus großen Organisationen abspalten, um die klar erkennbaren Eigeninteressen der jeweiligen Berufsgruppe durchzusetzen. Gewinnt eine solche Entwicklung eine gewisse Schwungkraft, so werden in ihrem Schlepptau auch nahe verwandte Arbeitsmärkte von einer Welle der imitierenden Lohnsteigerungen erfasst. Und schließlich folgt die gesamte Breite der Volkswirtschaft.
    Der Prozess wird also nicht abrupt, sondern schleichend, nicht „revolutionär“, sondern „evolutionär“ ablaufen, ganz anders als seinerzeit in den frühen 1970er-Jahren. Dies ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht sicherlich eine Chance: Zwar müssen sich Unternehmen und Staat letztlich auf dauerhaft höhere Löhne einstellen, aber sie haben wenigstens eine längere Frist der Anpassung dazu. Auch den Gewerkschaften wird dabei Zeit gegeben, sich neu zu orientieren. Denn nach vier Jahrzehnten der hohen Arbeitslosigkeit haben sie endlich wieder eine realistische Chance, auf längere Sicht lohnpolitischen Boden gutzumachen. Indes steckt in der Chance das Risiko, aufgrund der zunehmenden Eigeninteressen von Arbeitskräften mit hohen „Knappheitsrenten“ in eine neue strukturelle Defensive gedrängt zu werden. Besonders gefragte Arbeitnehmer könnten sich – noch stärker als bisher – aus dem Geleitzug der Großgewerkschaften lösen und ihre eigenen Wege gehen. Dies gilt umso mehr, als gerade auch die junge, gut ausgebildete, aber kleine Generation, die in den Arbeitsmarkt hineinwächst, ihre hervorragenden Chancen schnell erkennen wird und nutzen will. Es wird zu einer Frage von existenzieller Bedeutung für die Gewerkschaftsbewegung, ob sie in der Lage ist, für diese Generation attraktive Mitgliedschaftsangebote zu machen. Wahrscheinlich wird dies nur gelingen können, wenn die Gewerkschaften in den Tarifverträgen eine stärker differenzierte Tarifstruktur zulassen,

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