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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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die diesen besonderen Interessen Rechnung trägt.
    Die neue Welt der Spartenstreiks
    Fachgewerkschaften nutzen ihre Rechte
    Wesentlicher Grund für den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland ist die Tarifautonomie. Sie gehört zu den Grundrechten, durch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützt. Dort heißt es: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“ Auf diesen Grundsätzen beruht in Deutschland die Tätigkeit aller Gewerkschaften, und zwar wirklich aller. Es ist dabei gleichgültig, welche Größe oder Weltanschauung sie haben und ob sie die Beschäftigten einer ganzen Branche oder einzelner Berufssparten vertreten.
    Über Jahrzehnte übernahmen die großen mächtigen Industriegewerkschaften die Rolle der Arbeitnehmervertretung, und zwar jeweils für alle Arbeitnehmer ihrer gesamten Branche. Seit einigen Jahren lässt sich allerdings ein merkwürdiges Phänomen beobachten: der Wiederaufstieg der Fachgewerkschaften. Es gab sie natürlich immer schon in großer Zahl, von den Berufsmusikern über die Forstleute und Fußballspieler bis zu den Kraftfahrern und Sozialversicherungsangestellten. Aber sie fielen nicht weiter auf, weil sie in den mächtigen Wellen regelmäßiger Tarifabschlüsse unauffällig mitschwammen und sich dabei an den Großen orientierten.
    Dies hat sich geändert, zumindest an einigen neuralgischen Stellen der Wirtschaft. So konnten etwa der Marburger Bund für die Ärzte und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer in jüngerer Zeit mit Streikdrohungen und -aktionen einiges an Lohnerhöhungen und weiteren Vergünstigungen durchsetzen. Am spektakulärsten ging es dabei im März 2012 an den deutschen Flughäfen zu, als die Unabhängige Flugbegleiter Organisation die Arbeit niederlegen ließ und die Gewerkschaft der Flugsicherung mit einem Solidaritätsstreik des Bodenpersonals am Frankfurter Flughafen den Streik der Kollegen unterstützen wollte. Dies wurde per einstweiliger Verfügung durch Gerichtsbeschluss untersagt – zu Recht, weil es die Verhältnismäßigkeit sprengte.
    Der Fall stieß auf große Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Er führte zu lauten Forderungen nach einem Eingriff der Politik. In seltener Einigkeit riefen die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft, die beiden Tarifpartner mit „Branchenzuständigkeit“, nach einem Eingriff des Gesetzgebers – natürlich im Namen eines übergeordneten nationalen Interesses. Man fragt sich allerdings, worin dieses Interesse genau liegen soll, wenn nicht allein in dem Verhindern von Machtmissbrauch durch Unverhältnismäßigkeit der Mittel. Da reichen aber die Gerichte aus, wie sich ja gerade beim Frankfurter Flughafenstreik gezeigt hat. Es ging wohl eher darum, die Konkurrenten des herrschenden Tarifkartells mithilfe der Politik in die Schranken zu weisen.
    Hinter dem Wiederaufstieg der Fachgewerkschaften stehen tief greifende wirtschaftliche Veränderungen. Sie betreffen die Verhandlungs- und Machtposition einzelner Berufsgruppen, letztlich also den Marktwert ihrer Leistung. Schritt für Schritt bewegt sich unsere Gesellschaft in Richtung der Vollbeschäftigung. Wie ein erstes Wetterleuchten signalisiert der Markt die zunehmende Knappheit an Arbeitskräften, und zwar zunächst in bestimmten Berufssparten, deren Leistungen anscheinend immer schwerer zu ersetzen sind. Darin liegt natürlich eine Gefahr für die „Einheitsgewerkschaft“ in einer Branche: Sie verliert an Macht. Und die Arbeitgeberseite muss sich mit mehreren Gewerkschaften auseinandersetzen, auch dies ist nicht angenehm.
    Gleichwohl gibt es für die traditionellen Tarifpartner einen naheliegenden Ausweg: Sie müssen eben die Lohnstrukturen ändern. Sie müssen – noch bevor Fachgewerkschaften neu gegründet oder aktiv werden – die besonderen Interessen von deren potenziellen Mitgliedern berücksichtigen. Nur wenn sie dies tun, können sie ihren Einfluss wahren. Mehr als das: Sie können an Einfluss gewinnen, die Lage am Arbeitsmarkt ist günstig.
    Es könnte also zu einer Art Wettrennen kommen zwischen dem Anstieg der Löhne am Markt und den Tariflöhnen. In jedem Fall wird das Endergebnis auf Dauer eine substanzielle Verteuerung der Arbeit sein,

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