Vollendet (German Edition)
voller Kleider und Konserven.
»Unglaublich!«, sagt Connor. Er hat sie zusammen mit Lev vom Waldrand aus beobachtet.
»Was soll ich sagen? Ich bin eben Künstlerin«, antwortet sie. »Es ist wie Klavier spielen. Du musst nur wissen, welche Tasten du bei den Menschen anschlagen musst.«
Connor lächelt. »Du hast recht. Das ist besser als Klauen.«
»Eigentlich«, meint Lev, »ist Betrügen nichts anderes als Klauen.«
Risa ist ein bisschen beleidigt und fühlt sich unbehaglich bei diesem Gedanken, lässt sich aber nichts anmerken.
»Vielleicht«, erklärt Connor, »aber es ist Klauen mit Stil!«
Der Wald endet an einem Wohngebiet. Gepflegte Rasenflächen sind wie die Blätter der Bäume gelb geworden. Es ist jetzt wirklich Herbst. Die Häuser hier sehen alle fast gleich aus, aber nur fast, und bei den Menschen, die in ihnen leben, ist es nicht anders. Es ist eine Welt, die Risa nur aus Zeitschriften und aus dem Fernsehen kennt. Für sie sind die Wohnviertel in den Vororten magische Königreiche. Vielleicht hatte sie deshalb den Mut, zu dem Haus zu gehen und sich als Didi auszugeben. Das Viertel zog sie an wie der Duft von frisch gebackenem Brot aus den Industrieöfen des Staatlichen Waisenhauses Nummer 23.
Zurück im Wald, wo sie von keinem Fenster aus gesehen werden können, untersuchen sie ihre Geschenktüte, als wäre sie voller Halloween-Süßigkeiten.
Sie finden eine Hose und ein blaues Hemd für Connor und eine Jacke, die Lev passt. Für Risa ist nichts dabei, aber das ist okay. Sie kann später noch einmal Didi spielen.
»Ich kapier immer noch nicht, warum andere Klamotten so wichtig sind«, sagt Connor.
»Schaust du nie fern?«, fragt Risa. »Wenn Leute zur Fahndung ausgeschrieben werden, beschreiben Polizisten immer, was die Täter zuletzt getragen haben.«
»Wir sind keine Täter«, sagt Connor. »Wir sind abgehauen.«
»Wir sind Schwerverbrecher«, entgegnet Lev. »Was du tust, ich meine natürlich, was wir tun, ist nach den Bundesgesetzen ein Verbrechen.«
»Was, Kleider stehlen?«
»Nein, uns selbst. Mit der Unterschrift unter den Umwandlungsverfügungen sind wir Eigentum des Staates geworden. Dass wir abgehauen sind, macht uns nach dem Bundesgesetz zu Verbrechern.«
Dieser Gedanke gefällt Risa und Connor gar nicht, aber sie schütteln ihn beide ab.
Der Ausflug in bewohntes Gebiet ist gefährlich, aber notwendig. Vielleicht finden sie im Verlauf des Vormittags eine Bibliothek, in der sie sich Landkarten herunterladen und eine unbewohnte Gegend ausfindig machen können, in der sie für immer verschwinden können. Gerüchten nach gibt es versteckte Gemeinschaften von Wandlern auf der Flucht. Vielleicht finden sie ja eine.
Ihnen begegnet eine Frau, noch ein Mädchen, vielleicht neunzehn oder zwanzig. Sie bewegt sich schnell, aber irgendwie komisch, als wäre sie verletzt. Risa ist sich plötzlich sicher, dass das Mädchen sie sehen und erkennen wird, aber sie weicht ihren Blicken aus und verschwindet hinter der nächsten Ecke.
11. Connor
Ungeschützt. Angreifbar. Connor wünschte, sie wären im Wald geblieben, aber sie können sich auf Dauer nicht von Eicheln und Beeren ernähren. In der Stadt werden sie etwas zu essen finden. Essen und Informationen.
»Das ist die beste Tageszeit, um unentdeckt zu bleiben«, erklärt Connor den anderen. »Morgens sind alle in Eile. Zu spät dran für die Arbeit und so.«
Connor findet im Gebüsch eine Zeitung. »Schaut euch das an! Eine Zeitung. Wie retro ist das denn?«
»Steht was über uns drin?«, fragt Lev. Er klingt, als wäre das gut. Die drei überfliegen die Titelseite. Der Krieg in Australien, lügende Politiker, das Übliche. Connor blättert unbeholfen die großen, unhandlichen Seiten um. Sie reißen leicht und der Wind fährt in sie hinein, wie in einen Drachen, sodass das Lesen schwierig ist.
Sie werden weder auf Seite zwei erwähnt noch auf Seite drei.
»Vielleicht ist die Zeitung alt«, vermutet Risa.
Connor prüft das Datum oben auf der Seite. »Nein, von heute.« Er kämpft mit dem Wind, um noch eine Seite umzublättern. »Ah … da ist es.«
Die Schlagzeile lautet: Massenkarambolage auf Autobahn. Der Artikel ist recht kurz: Autounfall am frühen Morgen, blablabla, stundenlange Staus, blablabla. Der tote Busfahrer wird erwähnt und dass die Straße drei Stunden lang gesperrt war. Aber über sie steht da nichts. Connor liest die letzte Zeile des Artikels laut vor: »Ursache des Unfalls sind möglicherweise polizeiliche
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