Vollendung - Thriller
gemocht. Sie fühlten sich immer trocken an und ließen ihre Augen geschwollen aussehen. Auch sie waren eine Notwendigkeit, aber sie würde ihre schwarz gefasste Brille für alle Fälle immer dabeihaben. Am schlimmsten war es jedoch, wenn sie ihre Sonnenbrille aufsetzte. Sie fand, sie sah idiotisch aus.
»Bist du so weit?«, fragte Markham und steckte den Kopf zur Badezimmertür herein. Seine Anwesenheit beruhigte sie, gab ihr Halt, aber zugleich schämte sie sich. Ja, trotz allem, was passiert war, seit sie ihn kennengelernt hatte, war Cathy tatsächlich glücklich, endlich mit ihm allein zu sein.
»Ja«, sagte sie. »Wenn es dir nichts ausmacht, mit mir gesehen zu werden.«
Markham küsste sie auf den Hals und ließ sie am Waschbecken zurück. Sie hatten die Nacht eng umschlungen verbracht, sich wie ein Paar Ehebrecher bis in den frühen Morgen hinein geliebt, und Cathy hatte immer noch den seltsamen Duft ihres Haarfärbemittels und Sam Markhams Eau de Toilette in der Nase.
Als Cathy sich die Zähne putzte, hatte sie plötzlich den Impuls, Janet Polk anzurufen – ihr Handy aufzuklappen und ihrer Ersatzmutter eine kurze Nachricht zu hinterlassen, dass es ihr gut ging. Aber das war streng verboten. Ja, Cathy wusste verdammt genau, dass sie mit niemandem außerhalb des FBI reden sollte, bis Bill Burrell grünes Licht gab – ein weiterer Teil ihrer Abmachung mit ihm, den sie wie ihr Haar bedauerte. Cathy hatte nicht mehr mit Dan und Janet Polk gesprochen, seit sie das Krankenhaus verlassen hatte; sie hatte ihnen über Rachel Sullivan Nachrichten übermittelt, aber sie hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen, weil sie wusste, wie besorgt Janet war, seit sie von der Ermordung Steve Rogers’ erfahren hatte.
Später wird Zeit sein, es zu klären.
Als Cathy aus dem Badezimmer kam, stand Markham mitten im Gemeinschaftsraum, sein Exemplar von Die im Stein schlafen offen vor sich, als wäre er ein Schauspieler, der im Begriff war, eine Lesung zu veranstalten.
»Was ist los?«, fragte Cathy.
»Nichts, eigentlich. Ich versuche mich nur zu sammeln, bevor wir … zu müde werden, würde ich sagen.«
»Was meinst du?«
»Na ja, seit der Videokonferenz mit Quantico gestern quält mich ein Zitat aus deinem Kapitel über die Pietà – ein Zitat, das Michelangelo selbst zugeschrieben und von seinem zeitgenössischen Biografen Ascanio Condivi überliefert wird.«
»Du meinst das Zitat hinsichtlich des jugendlichen Aussehens der Madonna?«
»Ja. In deiner Erörterung der verschiedenen Gründe, warum Michelangelo seine Maria als junge Frau dargestellt haben könnte, schreibst du, der Künstler selbst habe zu Condivi gesagt: ›Wisst ihr nicht, dass keusche Frauen viel länger frisch bleiben als jene, die nicht keusch sind? Um wie viel mehr muss dies dann auf die Jungfrau Maria zutreffen, die niemals auch nur das geringste lüsterne Verlangen hatte, das ihr Aussehen verändert haben könnte.‹«
»Und warum quält dich das?«
»Na ja, wie wir bei seinem Bacchus gesehen haben, ist sich der Bildhauer sehr wohl des zeitgenössischen Kontexts bewusst, den seine Pietà im Gepäck hat – das heißt wie unser Wissen darum, woher die Werke stammen, unsere Wahrnehmung von ihnen beeinflusst. Wie wir beim Bacchus gelernt haben – wo wir, die Betrachter, die Mythologie des römischen Gottes und des Satyrs mit dem Leben von Tommy Campbell und Michael Wenick verquickt sehen –, so sehen wir beim Betrachten seiner Pietà die Geschichte der Jungfrau Maria und Christi, aber wir sehen auch die Geschichten der Prostituierten – das lüsterne Verlangen in ihrem Leben. Unser Verstand sieht den Widerspruch des Heiligen und des Unreinen zugleich.«
»Dann glaubst du also, die Botschaft in diesem Fall ist letzten Endes eine blasphemische?«
»Ich weiß es nicht, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich etwas übersehe – etwas, das dein Kapitel in Die im Stein schlafen mit der Verwendung von Prostituierten für seine Pietà verbindet – etwas, das darüber hinausgeht, dass sie leicht verfügbares Material waren.«
»Er hat nicht nur Prostituierte verwendet«, korrigierte Cathy nachsichtig.
»Es tut mir leid, Cathy, das weiß ich. Aber – und du wirst mir verzeihen müssen – ich glaube, es geht über die Profession der Opfer hinaus, hin zum Konzept der Sünde , wenn man so will, der sexuellen Unreinheit. In den Augen des Bildhauers waren alle Opfer, die er für seine Pietà verwendet hat, Sünder in Bezug auf
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