Vollmondstrand
›Pharmacia‹.
Auch unterließ sie es seither tunlichst, 48 Stunden mit dem Zug anzureisen und ebenso lange mit dem Zug wieder heimzufahren.
Leben war lernen, n’est-ce pas?
Essaouira, also. Die Fassaden am Hafen erinnerten an die Insel. Nur, wie ruhig es hier zuging, direkt beschaulich. Die Menschen strahlten Gelassenheit aus, die bunten Waren in den Gassen sahen allesamt selbst entworfen und handgefertigt aus.
Die Dinge gelangten von hier auf ihre geliebte Insel, erkannte sie mit einem Schlag.
Sie war an der Quelle!
Einige Althippies streunten durch die Gassen, auf Krücken gestützt mittlerweile oder auf imaginären Instrumenten in Gedanken spielend, ganz in ihrer eigenen Welt eingeschlossen.
Sie könnten sicher viel erzählen, dachte Rosa und klemmte sich die soeben erstandene Handtrommel unter den Arm.
»Wie viele von diesen Übriggebliebenen wohl gerne heimfahren würden, wenn sie könnten?« Marti schien Rosas Gedanken zu erraten.
»Haben sie denn noch ein Daheim?«, fragte sie zurück. »Sieh sie dir an, sie sind über 60, wahrscheinlich leben sie schon 40 Jahre hier. Was können sie noch anderes tun als ›weitermachen‹?«
»Vielleicht haben sie keine Kinder«, bemerkte Marti nachdenklich. »Wem gehen sie ab, wenn sie hier sterben?«
Martis rhetorische Frage missfiel Rosa. Sie steckte sich eine Makrone in den Mund und stakste weiter die Stufen zur Burg hinauf.
63
»Merkst du, wie wir uns verändern hier? Schon drei Tage keine Autos, keine Werbung, kein Konsum«, fasste Marti begeistert seine Eindrücke seit ihrer Ankunft zusammen.
»Und was ist mit der Fahrt ans Meer?«, antwortete Rosa und biss in ein Blätterteig-Öhrchen.
»Der Kamelritt zählt nicht.«
»Es waren insgesamt sechs Stunden mit dem Taxi.«
»Das war nur von A nach B, das zählt nicht. Ich fühl mich trotzdem so …«, er suchte nach dem passenden Ausdruck, seinen Gemütszustand beschreiben zu können, »so … heruntergeschraubt!«
»Weil du zwei Tage nicht mit dem Auto gefahren bist?« Rosa schaute verdutzt.
Marti nahm Rosa an der Hand und zog sie zu sich. Beide mussten sie den Kopf einziehen, um in die Werkstatt eintreten zu können. Drinnen war es düster, zwei junge Burschen hockten auf einer Decke. Am Boden vor ihnen lagen Stücke scharf abgetrennten Metalls. In rhythmischen Abständen hämmerten die jungen Männer kleine Teile aus den Metallbahnen.
»As-salamu 'alaikum.«
»Wa 'alaikumu s-salam.«
Wie jung sie sind, dachte Rosa. Am Boden lagen überall Schnipsel von Kupferblech, Verzinktem und, wer hätte das gedacht, Eisenblech. Das wäre jetzt sehr modern, wurde ihnen verständlich gemacht.
»Aber in Nemsa«, damit meinte er Österreich, »es röstet!« Erklärte der Marokkaner, der ein paar Brocken Deutsch sprach, und gestikulierte dabei heftig.
Rosa dachte an die vielen, vielen Stunden, die nötig waren, Eisenblech zu einem filigranen Ballon zu formen, der in Chrysanthemenform Licht spenden konnte. Und dann sollte alles nur Blech sein, Tand, der in null Komma nichts ›röstete‹?
Sie setzten sich zusammen vor die Werkstatt, irgendjemand brachte Tee und die beiden Gäste erlebten den augenzwinkernden Charme und die heitere Gelassenheit der Marakchis. ›Inshallah! Gott weiß die Antwort!‹
Irgendwann, dachte Rosa, würden die Jungen auch wegziehen wollen in die Neustadt Gueliz, wo es trockene Wohnungen und Plasma-Fernseher gab.
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte in diesem Moment. Konnte sie es ihnen verdenken, dass sie ihre Wäsche waschen wollten, wenn sie schmutzig war – und nicht, wenn die Sonne sie trocknen konnte. Sie tat es zu Hause doch auch – ab in den Trockner damit!
Sie blieben eine Weile in Gedanken versunken sitzen, orientalische Klänge brachten sie zum Träumen. Plötzlich erhob sich Rosa, verbeugte sich zum Abschied und bedeutete Marti, es ihr gleichzutun. Sie hatte es auf einmal eilig, hier wegzukommen.
»Wo sind die Frauen?« Rosa hatte ihre Bodenhaftung wiedererlangt.
»Marokko ist das mit Abstand fortschrittlichste muslimische Land«, entgegnete Marti.
»Trotzdem, ich sehe Frauen nur mit Essen in oder Kindern an der Hand – und meistens mit beidem!«, zischte Rosa zurück.
64
»Alors, chère Madame, die Europäer kaufen die heruntergekommenen Königspaläste in der Altstadt auf. Es ist schick geworden und sie lassen sich gerne als Retter feiern. Haben Sie schon einmal auf die Qualität der neuen Ausstattung geachtet? Alles Blech, kein Marokkaner, der
Weitere Kostenlose Bücher