Vollstreckung - Sturm, A: Vollstreckung
tatsächlich nicht mit Frau Lefort sprechen. Aber sie ist nicht nach Frankreich gegangen, sie ist tot.«
Frau Rosen saß da wie erstarrt und sagte kein Wort. Sie wirkte auf einmal kleiner in ihrem Korbstuhl und sah verloren aus. Nach einer ganzen Weile erhob sie sich und ging in eine Ecke ihres Ateliers. Sie begann, in einem Stapel großer Mappen zu suchen. Mit einer Mappe kam sie zurück zum Tisch. Sie schlug sie auf und zeigte den Kommissarinnen die Porträtzeichnung einer jungen, fröhlich blickenden Frau.
»Das ist Sarah. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat sie mir Modell gestanden. Ich dachte damals nicht im Traum, dass es unsere letzte Begegnung sein würde. Ich habe ab und zu an sie gedacht und mir jedes Mal vorgenommen, sie anzurufen. Immer kam etwas dazwischen und so schob ich es all die Jahre vor mir her. Nun ist es zu spät.«
Karin und Sandra sahen sich die Zeichnung lange an. Sarah war nicht im klassischen Sinn schön zu nennen, aber trotzdem es nur eine Grafik war, konnten sie erkennen, dass sich hinter dem gezeichneten Porträt eine interessante Persönlichkeit verbarg.
»Sie und Frau Lefort waren Kommilitoninnen. Können Sie uns ein wenig über sie erzählen?«, bat Sandra.
»Zuerst möchte ich gern wissen, welches Schicksal Sarahs Leben beendet hat.«
»Sarah hat sich selbst getötet. Sie wurde Opfer eines brutalen Verbrechens und das hat ihre Psyche so zerrüttet, dass sie freiwillig aus dem Leben schied.«
Karin, die nun wieder ganz bei der Sache war, gratulierte Sandra innerlich. Sie fand, dass diese den Sachverhalt diplomatisch wiedergab und die unrühmliche Rolle der Polizei dabei galant umschifft hatte. Frau Rosen begnügte sich mit dieser Antwort. Vielleicht ahnte sie auch, dass sie nicht mehr erfahren würde. Karin war überhaupt von Frau Rosens Art angenehm überrascht. Als sie Frau Rosen in ihrer malerischen Erscheinung gesehen hatte, befürchtete sie, dass sie es mit einer überspannten Künstlerin zu tun bekommen würden. Stattdessen trafen sie auf eine fest auf dem Boden der Tatsachen stehende, natürliche Frau. Und auch Frau Rosens Bilder gefielen Karin. Sie malte sowohl realistisch als auch abstrakt. Die Bilder, so fand Karin, hatten etwas.
Nach Sandras Erklärung herrschte eine Weile Stille und die drei Frauen probierten den Tee. Nachdem Karin gekostet hatte, sagte sie: »Der schmeckt köstlich! Aber das ist doch nicht ausschließlich Früchtetee. Darf ich erfahren, welche geheime Zutat Sie noch hinzugegeben haben?«
»Geheim ist daran nichts. Ich schneide immer etwas frischen Ingwer in kleine Stücke und lasse diese mit dem Tee ziehen.«
Karin kostete erneut. »Jetzt wo Sie es sagen, schmecke ich es heraus. So dezent wie sie das Gewürz dosieren, ist der Geschmack nicht zu aufdringlich. Danke für diese Anregung, bei meinem nächsten Einkauf werde ich ganz sicher auch Ingwer in meinen Wagen packen.«
Durch diese Ablenkung konnte sich Frau Rosen von dem Schock erholen und ihre Miene war fast schon wieder heiter, als sie fragte: »Eines verstehe ich aber noch nicht. Wenn Sarah tot ist, welches Interesse hat die Staatsmacht dann noch an ihrem Charakter?«
Karin, die Sandra nicht die gesamte Arbeit allein erledigen lassen wollte, griff ein: »Frau Lefort ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen, welches der Auslöser für ihren Suizid war. Einer der Täter ist noch immer nicht ermittelt und wir haben Grund zu der Annahme, dass aktuelle Ermittlungen mit dem Verbrechen, dessen Opfer Frau Lefort war, im Zusammenhang stehen. Wir benötigen deshalb ein genaues Bild von Sarahs Persönlichkeit. Da Sie Sarah gut kannten, bitte ich Sie, uns Sarah mit all ihren Charakterstärken und -schwächen zu beschreiben. Ich weiß, dass dies nach all den Jahren mühsam für Sie sein muss, trotzdem versuchen Sie es, bitte.«
»Okay, dann will ich versuchen, Sarahs Persönlichkeit zu umreißen. Sie war eine ungewöhnliche Frau. Auf den ersten Blick wirkte sie unscheinbar, aber sobald man ein paar Worte mit ihr wechselte, war man von ihrem Charme total gefangen. Und das lag nicht nur an ihrem süßen französischen Akzent, beim Sprechen lebten ihre Gesichtszüge quasi auf. Man konnte ihr die Gefühle, die sie bewegten, stets ansehen. Sarah verstellte sich auch nie, sie war ziemlich direkt, aber immer freundlich und taktvoll dabei. Sie war ein Mensch, der zuhören konnte und auch selbst gern sprach. Sarah glaubte an das Gute im Menschen. Für sie war das schon wie eine Religion. Sarah
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