Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
mir so fremd wie nur irgendwas.
Aber weder der Nebel, noch das Schreiben, noch der Bewußtlose an der Hauswand helfen mir, den Zwischenfall vor ARS Haus und die ungeheure Kränkung zu vergessen.
Ich muß es versuchen.
Die Frau fehlt mir doch.
Heute besonders.
Ihre aufgedrehte Art, mir von ihrem Tag zu erzählen. Ihr weicher Duft, der sich morgens mit dem Geruch nach Kaffee mischte. Ihr Geträller in der Küche, das abbrach, wenn |139| sie feststellte, daß sie aus Versehen eines der offiziellen Lieder erwischt hatte, Lieder voller Zuversicht, in denen Pioniere vorangehen, in denen es überhaupt »immer nur vorwärts« geht »und nicht zurück«.
Mir fehlen ihre hellen, flinken Augen und ihre Unterkühltheit, mit der sie dem Volkspolizisten Paroli bot, als dem Kind auf der Autobahn plötzlich schlecht wurde und wir in einer Ausfahrt halten mußten. Sofort war die Polizei da und forderte uns auf weiterzufahren, und während sie den Mann herunterputzte, konnte ich nur daran denken, daß unser Kind gleich einem Volkspolizisten auf die Uniform kotzen würde.
Nicht die Kinder!
Die Kinder sind groß. Die Kinder sind sechsundzwanzig und einundzwanzig, sie haben ihr eigenes Leben. Zu Weihnachten sind sie bei ihrer Mutter, es geht ihnen gut. Sie machen eine Ausbildung. Sie verdienen ihr eigenes Geld. Die Kinder kommen hier nicht vor.
Sie haben hier nichts zu suchen.
An die Frau zu denken, ist eine Sache. An die Frau zu denken, das geht. Bei der Frau lassen sich die Geister einigermaßen in Schach halten. Da lassen sie sich mit Fotos überdecken. Mit Fotos, die in ein anderes Leben gehören, zu einem anderen Menschen.
Die Frau hätte mir längst ihre Hand an den Hinterkopf gelegt und gefragt, ob ich nicht endlich schlafen kommen will. Aber nicht die Kinder.
Ich habe mich krank schreiben lassen. Ich bleibe zu Hause.
Ich kann den Tagesanbruch in Ruhe hier oben am Schreibtisch abwarten. Gegen vier Uhr beginnt die stillste Phase der Nacht.
Die Spätheimkehrer liegen im Bett, die Tiere sind zur |140| Ruhe gekommen, kein Blatt raschelt, lautlos steht die Luft. Der Atem beruhigt sich. Die Gedanken an den Zwischenfall vor ARS Haus, die Gedanken an die Kränkung verschwimmen, werden undeutlich. Die Dunkelheit löst sie auf.
Es ist, als bereite sich die Welt vor auf den Moment, in dem sie wieder in Licht getaucht sein wird, eine Phase tiefer Konzentration, in der man überlegt, ob man noch einmal mit eintauchen will. Sich noch einmal aussetzen. Noch einmal hinfallen und wieder aufstehen und wieder nur bis zum nächsten Stolpern gelangen, das zum Hinschlagen führt, diesmal vielleicht für immer.
Wenn jemand aus der Gegend wirklich ein Mädchen entführt haben sollte, wäre das die beste Zeit, es für einen Moment unbemerkt an die frische Luft zu lassen. Gegen fünf tauchen in der Dunkelheit Scheinwerfer auf, die ersten fahren zur Arbeit, und gegen halb sechs dreht der Zeitungsausträger seine Runden. Eine Stunde später geht beim Nachbarn das Licht an, gefolgt von einem lauten Räuspern, mit dem er Schlafreste aus seiner Kehle hochzieht.
Langsam wird das Licht der Schreibtischlampe blaß, die Straßenlaternen verlöschen.
Es ist angenehm, nicht schnell noch ein paar Stunden Schlaf ergattern zu müssen, um dann im Büro trotzdem aufgerieben und hundemüde zu sein. In zwei Wochen ist Weihnachten. Da passiert im Ministerium nicht mehr viel. Und die Kollegen, die hartnäckig ihren Karrierekampf bis zu den Feiertagen weitertreiben, werden froh sein, daß ihnen einer weniger in die Quere kommt.
Es gibt andere Sorgen.
Die Geschichten zu veröffentlichen, stellt sich als schwierig heraus. Alle haben sie Bedenken. Zu Beginn der Woche war ich noch zuversichtlich. Ich klapperte ein paar Verlage in der Hauptstadt ab. Der Schneeregen war stark, aber die |141| Straße vor dem Haus und die Hauptstraßen durch die Dörfer wurden regelmäßig gestreut, und ich kam gut bis Berlin durch. In der Stadt ging der Schnee in braunen Matsch über. Während der Fahrt war ich in einer freudig angeregten Stimmung. Für meinen ersten Termin lag ich gut in der Zeit, ich hatte ordentlich gefrühstückt und sah schon voraus, wie das Buch die Runde durch die Presse machen und ARS zu nervösen Interviews (mit aufgekratzten Nagelbetten) veranlassen würde.
Der Stadteil Berlin-Mitte hat sich in den letzten zehn Jahren so verändert, daß ich mich kaum noch zurechtfand. Es gab keine freien Parkplätze, und als ich endlich einen gefunden hatte, war es
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