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Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest

Titel: Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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kommentierte sie mit einem
Aulewautsch!
, und dann fing ein Alleinunterhalter zu spielen an.
    Und plötzlich ging mir ein Licht mit der Vehemenz eines vierspännigen Adventskranzes auf. Es verhielt sich hier wie mit einer Religion: ein Wort zeugte das nächste, Abraham den Isaak und Isaak den Jakob und Jakob wiederum den soundso, der dann mit soundso den Perez und den Serah und so weiter, eine ganze lange Wortkaskade, der man rettungslos ergeben war, und das schrieb sich fort, eine einzige postchristliche Erschütterung, und ich wußte, da kämen wir nie wieder heraus.
    |136| Lange saßen wir schweigend und nippten am Punsch. Wir wußten, irgendwer brauchte uns für sein Spiel, und diesmal konnte uns niemand helfen, nicht mal wir selbst, wir waren in einer fremden Sprache gefangen.
    Der Typ im Regencape wußte das. Er ließ uns allein, er wußte, daß er erreicht hatte, was er wollte.
    Die Fernsehturmkugel drehte sich noch lange im Kreis, sie drehte, bis die Welt und der Weihnachtsmarkt unter uns vollkommen weggedreht waren. Der Alleinunterhalter spielte. Er stand auf einem Podest. Jede Stunde kamen wir an ihm vorbei.
    »Dann laß uns ma abdüsen jetze«, sagte meine Freundin traurig, als es sehr spät geworden war, »sssst, zissssch.« Sie zog an einer Strippe, die eher eine Zündschnur war und aus ihrer Hosentasche hing, und ich bewunderte sie dafür, daß sie immerhin die richtigen Worte fand. Düsen traf ziemlich genau die Art ihrer Fortbewegung. Ich sah sie kleiner werden und im Nachthimmel verschwinden, vielleicht wurde sie dort zu einem Stern, oder sie verschwand, schlichter, nur in der Leere, die ich mit acht noch angehimmelt hatte – Aber was sollte ich machen; ich und meine Freundin, wir existierten beide nicht, wenn unser Himmel, nur mal angenommen, jemandes Hirnrinde war.

|137| Protokoll 7
    Nachts, im Lichtkreis der Lampe, phantasiere ich mich so in die erfundene Welt, daß ich mich in jeder Gestalt der Geschichten wiederfinde. Am deutlichsten in diesem Herrn im Regencape.
Ich
betrat das Café im Fernsehturm,
ich
war es, dem sie sekundenlang gehorsam war. Dabei fehlt mir das Charisma, das ein Typ wie er besitzen muß. Zwischen ihm und mir besteht eigentlich keinerlei Ähnlichkeit. Und doch paßte mir das schwarze Regencape wie angegossen. Es scheint mit der Sprache zu tun zu haben. Mit ARS Sprache, die sich wie eine Brücke zwischen mir und diesen phantasierten Gestalten spannt.
    Wer hätte denn geahnt, daß ich in der Lage wäre, mir solche Dinge auszudenken? Die Frau würde aus allen Wolken fallen. Das gelingt nur, solange ich im Kraftraum ihrer Sprache bin. Dort läßt es sich dann kaum kontrollieren. Da zeigt sich, wie wenig stabil die eigene Person ist, wie schnell man alle Prinzipien und Grundsätze und Eigenschaften vergessen kann, die man für so wesentlich hielt. Das hat die Frau schon immer gewußt. Sonst wäre sie ja noch hier.
    ARS hat einmal behauptet, Erinnerungen würden aus allerhöchstens fünf Prozent Tatsachen bestehen, der Rest sei Alkohol. Er benebelt, er verzerrt, er macht uns größer und berauschter, als wir sind. Er versetzt uns in einen Schwebezustand. So ist das beim Schreiben. Daran mußte ich gestern beim Anhäufeln der Rosen denken. Ich hatte es versäumt, die Rosenstöcke rechtzeitig vor dem Frost zu |138| schützen. Jetzt ist es Mitte Dezember, und man kann nur hoffen, daß die Wurzeln nicht schon erfroren sind. Im Nebel lud ich Komposterde auf die Schubkarre und verteilte sie dann rings um die Stöcke. Der Nebel war dick und verwischte die Grenzen. Die Umrisse verschwammen. Ich hatte nur noch ein sehr undeutliches Gefühl von mir, da ich nicht mal mehr meine Hand sehen konnte, mit der ich die Erde anhäufelte. Ich schien mich ins weiße Wabern hinein auszudehnen.
    Es sind die Erinnerungen, die uns scheinbar am stärksten an uns selbst binden. Mich bindet die Erinnerung an die Frau ja auch immer noch an den, der ich war. Aber die Erinnerungen sind es auch, die die am wenigsten verläßliche Auskunft geben.
    Ich erinnere mich mittlerweile lebhaft an die 68er Bewegung. Dagegen ist die Verhaftung eines Kollegen am helllichten Tag vor vielleicht zwanzig Jahren so blaß, als wäre sie nur angelesenes, fremdes Wissen. Dabei habe ich damals zum ersten Mal einen Bewußtlosen gesehen. Sein Kopf war von dem Polizisten gegen eine Hauswand geschlagen worden, und es war zu sehen, wie der Blick brach und der Körper von einem Moment auf den nächsten wegsackte. Die 68er dagegen sind

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