Vom Dorf - Abenteuergeschichten zum Fest
halte diese Angst für verfrüht. Die Nepuzener wollen das Manuskript nicht vor Ende März, und selbst wenn es schließlich abgegeben ist, zwingt mich niemand, mit dem Schreiben aufzuhören.
Im Gegenteil. Es könnte dann überhaupt erst alles beginnen.
Whoever speaks to me in the right voice, him or her I shall follow.
ARS wird anrufen, sobald sie von der Veröffentlichung erfährt. Sie wird mich sehen wollen. Sie wird wissen wollen, wie eine solche Übereinstimmung zwischen zwei fremden Menschen möglich ist. Sie wird außer sich sein. Vielleicht wird sie mich anschreien. Vielleicht muß ich sie dann beruhigen und ihr zureden, und schließlich wird sie erschöpft sein und sich auf ein wirkliches, tiefes Gespräch einlassen. Mehr wünsche ich mir ja gar nicht.
Sie wird außer sich sein, weil die Stimme in den Texten ihr so nah ist wie ihre eigene und doch nicht sie selbst. Es |172| ist eine Stimme, von der sie sich, wenn sie liest, vollkommen verstanden fühlen wird. Die sie berauscht. Und endlich wird sie die Geistesverwandtschaft anerkennen.
Ich habe eine Kanne Melissentee gekocht. Draußen fahren Autos vorbei mit dem Besuch der Nachbarn, und der Schwung, den ich heute morgen beim Schreiben hatte, ist unweigerlich verloren. Ich weiß nicht, wie ich dieser Angst in Zukunft begegnen soll.
Dabei ist sie vollkommen unnötig. ARS muß auf diese Veröffentlichung reagieren! Sie wird sich melden und mich künftig daran hindern, an Tagen wie diesen am Fenster stehen und zusehen zu müssen, wie in der langsam einbrechenden Dunkelheit die Beleuchtung in den Gärten anspringt und wie hinter den Gardinen die Weihnachtsbäume erstrahlen. Sie wird mich daran hindern, die Kirchenglocken hören zu müssen, den Gesang und das fröhliche Geschnatter, das aus den Häusern ringsum den ganzen Abend heraufdringt, obwohl die geschlossenen Fenster die Geräusche dämpfen. Um so deutlicher tobt der Trubel in meinem Kopf. Ich weiß doch, wie es zu Weihnachten in der Familie zugeht. Ich kenne die Vorfreude der Insassen in den vorbeifahrenden Autos und die Vorfreude der Menschen, von denen sie erwartet werden. Ich weiß, wie der Geruch nach eingelegtem Fleisch das ganze Haus durchzieht. Ich kenne die träge, selbstzufriedene Müdigkeit nach dem Mittagessen, vom schweren Rotwein in funkelnden Römern befördert.
Wie könnte man das vergessen, wo jedes Jahr alles dafür getan wird, daß die Erinnerungen auch ordentlich aufgefrischt werden! Ich weiß doch, wie den Kindern, die zu Heiligabend, sobald es dunkel wird, mit ihren Müttern unterwegs sind, die Hast die kleinen Körper verzerrt. Sie haben es eilig, den Spaziergang so schnell wie möglich hinter sich |173| zu bringen, weil er in einem Zimmer voller Glockenklang und Überraschungspaketchen endet, die sie in der gleichen widerlichen Hast auswickeln, einer Hast, die sie viel zu schnell erwachsen werden läßt und am Ende vielleicht nur an ein ähnliches Fenster treibt wie das hier oben unter dem Dach. Ich weiß, wie der Glanz der Kugeln auf ihre Gesichter fällt, wenn sie sich in geschwisterlicher Eintracht aufstellen zum Weihnachtsprogramm und Gedichte aufsagen und Liedchen singen, und das Festessen, Ragout Fin und Obstsalat, kann ich förmlich schmecken.
Die Pappeln am Kanal stehen heute besonders reglos da.
Der Himmel ist ohne Farbe. Den ganzen Tag ist keine Katze auf dem Grundstück aufgetaucht, die Hunde sind still, und die Tauben gegenüber haben den Kopf dumpf ins Gefieder gesteckt. Es ist, als hätte sich die Natur schon auf diesen jährlich wiederkehrenden Irrsinn eingerichtet und stellte sich tot.
Bis elf Uhr morgens gelang es mir noch, kraftvoll und zügig an einer Geschichte zu arbeiten. Ich drang tief in ARS Sprachrhythmus ein. Ich war konzentriert. Seit ich ahne, wie sie denkt, bilde ich mir ein, es gehe leichter. Ich bilde mir ein, ihre Art zu imitieren, in der sie die Sätze konstruiert.
Gegen Mittag fiel der Strom aus, und der Nachbar klingelte, um zu erfahren, ob meine Hauptsicherung durchgeknallt sei, und bis der Fehler entdeckt und der Schaden behoben war, war die Stimmung, die ich zum Schreiben brauche, verschwunden und die Verbindung zu ARS gekappt. Der Fehler lag beim Nachbarn. Er hat seinen Gartenzaun, die Hausfront, das Dach und die kleine Mauer an seinem Froschteich mit roten und grünen Lichterketten bespannt und versuchte jetzt, auch noch die elektrischen Kerzen am Tannenbaum aus derselben Stromquelle zu speisen. Der Nachbar ist einer von den Leuten, die
Weitere Kostenlose Bücher