Vom Finden der Liebe und anderen Dingen (German Edition)
auch hinkommt, immer findet er Freundschaft und Zuflucht. Die Leute mögen Joe. Es ist leicht, ihn glücklich zu machen, und er stellt auch keine peinlichen Fragen. Er glaubt, was man ihm erzählt, was es ist oder wo man es herhat. Und eine Freundschaft mit Joe ist wie ein Abzeichen der Offenheit. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich mit ihm angebe, beiläufig hanebüchene Dinge von ihm erzähle, so als wäre mir seine Situation nicht fremd. Einfach, indem man ihn kennt, wird man automatisch interessanter. Als besäße man eine exotische Schildkröte. Und er ist ja auch wie eine kleine, blinde Schildkröte. Er krabbelt einfach in die Richtung, in die man ihn stellt.«
»Was ist schlimm daran?«, sagte Julia.
»Schlimm daran ist, dass es tragisch ist«, sagte Marcus. »Ich gebe dir ein letztes Beispiel. Als du geschlafen hast, waren Joe und ich auf dem Riverside-Platz und haben ein paar Runden Basketball gegeneinander gespielt. Er hat mich klar geschlagen, fast mühelos, und das war für uns beide peinlich und traurig. Traurig für mich, weil ich Sportler bin und ein NCAA -Stipendium habe und mir heute meine extrem begrenzten Fähigkeiten als Spieler aufgezeigt wurden. Aber für Joe war es noch trauriger, weil er sich als etwas viel, viel Schlimmeres erwiesen hat. Als Spieler mit unbegrenzten Fähigkeiten, die er niemandem zeigen kann. So ein unglaubliches Potenzial, vergeudet für Alvins Belustigung.«
»Dann bist du also ziemlich perfekt«, sagte Julia. »Was hast du mit dir denn so Tolles angestellt?«
»Freut mich, dass du das fragst«, sagte Marcus. »Mit nichts als harter Arbeit habe ich mein mäßiges Basketballtalent in eine kostenlose College-Ausbildung verwandelt. Ich studiere Wirtschaft im Hauptfach und zwei Nebenfächer, Spanisch und Chinesisch. Überleg doch mal, in fünfundzwanzig Jahren könnte Spanisch die Mehrheitssprache in diesem Land sein, und jeder Fünfte auf diesem Planeten ist Chinese. Denk mal einen Augenblick an die Märkte. Denk mal, was meine Fähigkeiten einem expandierenden Unternehmen wert sein werden.«
So sehe ich Marcus, wenn ich an ihn denke: wie er auf dem Sofa thront, sein zweites Bier leer, Schweißperlen auf der Nase, und Julia leidenschaftliche Vorträge hält.
»Ich sehe nicht so gut aus wie meine Brüder«, sagte er. »Und ich habe auch keine großartigen Begabungen. Aber der Wendepunkt in meinem Leben war die Erkenntnis, wie wenig Talent wert ist. Dass meine Eigenschaften, die ich immer für Fehler gehalten hatte, meine hölzerne Art, meine Engstirnigkeit, meine ständige Beschäftigung mit der Zukunft, dass die eigentlich meine größten Gaben waren, die Geheimnisse für die Verwirklichung aller meiner Ziele. Das hat mir die Augen geöffnet, als mir das endlich aufging. Mir war, als hätte ich als Kind ein langes Gedicht auswendig gelernt und es viele Jahre lang täglich aufgesagt, und eines Tages hätte ich dann festgestellt, dass sich das Ding ja reimt.«
Marcus sah mich an und lächelte. Dann nahm er eine Handvoll Erdnüsse aus der Schale auf dem Couchtisch. Er knackte eine und warf mir die Nuss in einem langsamen hohen Bogen zu. Ohne überhaupt nachzudenken, öffnete ich den Mund und schnappte sie. Gleich darauf wünschte ich, ich hätte es nicht getan, aber ich hatte nicht anders gekonnt.
»Erstaunlich«, sagte er. »Du hast immer noch Hunger.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte Julia.
»Was daran glaubst du nicht?«
»Du sagst mir, Joe kann nicht lesen?«
»Klar kann ich lesen«, sagte ich.
»Wir beschämen ihn jetzt nicht, indem wir ihn bitten, etwas zu lesen.« Marcus lachte und sah auf die Uhr. »Ich werde das Essen jetzt noch ein bisschen abtrainieren, bevor ich vor dem Schlafen mein Stretching mache. Du kannst bis zu deinem Flug auf dem Sofa pennen. Aber für Joe beginnt der Zapfenstreich von nun an um zehn Uhr, also sorg bitte dafür, dass er bis dahin gespült hat.«
Mein Zimmer hatte sich, seit ich zuletzt dort geschlafen hatte, schon sehr verändert. Marcus hatte seine ganzen Gewichte und Trainingsmaschinen reingeräumt, eine Wand war halb schwarz gestrichen, und das gesamte Zimmer roch aus irgendwelchen Gründen nach Sägemehl. Ich lag schon im Bett, als Marcus hereinkam, um mir Gute Nacht zu sagen und mir die neuen Regeln zu erklären, die ich befolgen müsste, wenn ich weiterhin dort wohnen wollte.
»Du wirst dein Leben genauso aufbauen, wie ich meins aufgebaut habe«, sagte er. »Indem du einen aggressiven Plan machst und dich auch daran
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