Vom Finden der Liebe und anderen Dingen (German Edition)
Tilt. Ich sah mich wieder in der Schule, wo der Lehrer mich aufforderte, ich solle was Unmögliches lesen. Ich war noch nie so lange gefahren, dass mir das Benzin ausging.
»Das hab ich dann wohl einfach verpasst.«
»Du kennst tatsächlich das Benzinlämpchen nicht?«
Julia drückte sich gegen ihre Tür, als wollte sie so weit weg von mir wie möglich sein. Wegen der Art, wie sie mich ansah und den Kopf am Fenster schüttelte, bekam ich ganz stark das Gefühl, dass sie mich nicht mehr mit nach Tennessee nehmen wollte, sondern dass ich den Rest meines Lebens in diesem Maisfeld verbringen oder eben zurück nach Los Angeles sollte, um Marcus ein letztes Mal zu bitten, mich wieder in seiner Wohnung aufzunehmen. Aber dann veränderte sich ihre Miene langsam. Ihr ganzer Körper entspannte sich, und nun schien sie nur mehr neugierig.
»Wie machst du das?«, fragte sie mich.
»Was?«
»Dass du so ruhig bist. Alvin war nie so ruhig. Bist du schon so geboren?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Das Komischste daran ist, dass es sogar ansteckend wirkt. Eine schöne Art zu leben. Du fährst einfach, bis das Auto stehen bleibt. Es ist dir sogar egal, warum. Dann sitzt du einfach da und wartest, was als Nächstes passiert.«
»Du machst dich über mich lustig.«
»Nein. Wirklich nicht. Ich möchte sogar, dass du mir das beibringst. Und offenbar hast du auch auf mich einen ziemlich beruhigenden Einfluss, denn die alte Julia würde jetzt total durchdrehen. Ich kann verstehen, warum die Leute dich mögen, wie Marcus sagt. Egal, was passiert, du nimmst alles ganz locker. Wir stehen mitten in einem Maisfeld, ohne einen Tropfen Sprit, und es berührt dich kaum. Wie schaffst du es, da nicht gestresst zu sein?«
»Ich muss gar nicht darüber nachdenken.«
»Ich mache mir ständig über alles Sorgen. Also, was ist dein Geheimnis? Wie gehst du mit dieser Situation jetzt um? Machst du dich zur nächsten Tankstelle auf? Warten wir darauf, dass wir von irgendeinem Fremden gerettet werden? Bleiben wir hier sitzen, bis wir verhungert sind? Stelle ich die falschen Fragen?«
»Wahrscheinlich sollten wir mal losgehen«, sagte ich.
Wir stiegen aus und gingen den Grasstreifen an der Straße entlang. Ungefähr eine Stunde später kamen wir tatsächlich an eine Tankstelle, wo ich an einem Automaten Geld zog, einen kleinen Benzinkanister kaufte und auch noch einen Schokoriegel und Milch. Auf dem Rückweg fragte mich Julia: »Stimmt es, was Marcus gesagt hat? Dass du nicht lesen kannst?«
»Ich könnte, wenn ich wollte.«
»Ich verspreche dir, dass es mich überhaupt nicht stört. Ich möchte es einfach nur wissen. Ich finde es sogar interessant. Mir ist noch niemand in unserem Alter begegnet, der nicht lesen kann.«
»Du solltest mal meine Unterschrift sehen«, sagte ich. »Ich habe eine richtig gute Handschrift.«
»Dann kannst du es also nicht.«
»Noch nicht.«
»Das ist ja unglaublich. Ich habe einfach keine Ahnung, was ich mache. Was in aller Welt geschieht nur mit mir?« Sie ballte die Fäuste und schrie stumm in den Himmel. »Ich verknalle mich in einen Jungen, der nicht lesen kann.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, was Julia da gerade gesagt hatte. Ich hatte mich davor schon in Leute verknallt, aber hier war ich das Objekt, und ich spürte, wie es mir durch den ganzen Körper lief. Ich weiß noch, wie nervös und aufgewühlt mein Magen war, so als wollte ich unaufhörlich in Lachen ausbrechen. Vor allem aber war ich glücklich, als hätte ich einen unmöglichen Wurf geschafft oder eine unmögliche Karte gezogen. Von dem Moment an war alles zwischen uns anders. Den Rest des Tages lösten wir uns alle paar Stunden mit dem Fahren ab, und dabei behielt ich das Benzinlämpchen ständig im Auge. Hin und wieder lehnte sich Julia an mich, und allmählich fühlte es sich an, als hätten wir das schon ewig so gemacht.
Ich merkte, dass sich die Landschaft, wenn man mit dem Auto durch sie hindurchfährt, nicht besonders verändert, jedenfalls nicht so sehr, wie ich dachte. Die Restaurants, die wir am Ende sahen, waren im Grunde genau wie die am Anfang, und ich stellte erfreut fest, dass es auf der ganzen Strecke alle zwanzig Kilometer einen McDonald’s gab. Beim ersten, in den wir gingen, fragte ich die Leiterin, ob sie Francisco kannte. Ich wollte einfach bloß wissen, ob er endlich Carmen geküsst hatte, aber ich sah ihr an, dass ich sie nur verwirrt hatte.
»Du machst dich lächerlich«, sagte Julia danach. »Wie soll
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