Vom Finden der Liebe und anderen Dingen (German Edition)
tun. Schließlich konnte ich fegen und zur Not auch ein Hotelbett machen, und später erledigte ich auch noch die Wäsche und lernte, wie bestimmte Probleme bei Toiletten beseitigt wurden. Manchmal half ich sogar ein bisschen in der Küche aus, wenn dort zusätzlich jemand gebraucht wurde.
Ich schlief im kleinsten Gästezimmer im ersten Stock des Hotels. Das sollte vorübergehend sein, aber ich schaffte es nie, etwas Eigenes zu finden, was aber keinen störte. Das Hotel war sowieso nie voll. Nicht mal annähernd. Wir hatten über fünfzig Zimmer, aber wir waren nur ausgebucht, wenn ein großes Pferderennen in der Nähe stattfand. An diesen Wochenenden war der Pool immer rappelvoll, und alle mussten wie die Wilden arbeiten, und dann schlief ich in Julias Zimmer auf dem Sofa. Sie wohnte im Hotel, weil ihr Dad zwei Stunden entfernt lebte und sie nicht bei ihrer Mutter wohnen wollte. Sie sagte, bei ihrer Mutter wolle sie um keinen Preis wohnen. Offiziell war ihr nicht gestattet, nach Mitternacht Jungs auf ihrem Zimmer zu haben, wenn ich also bei ihr übernachtete, musste ich früh aufstehen und mich rausschleichen, bevor jemand mich sah.
Julia wohnte den Sommer über in so einer hübschen Suite mit Küche im zweiten Stock, aber es wirkte eher wie eine Wohnung als ein Hotelzimmer. Sie hatte alle ihre Stofftiere da, und die Wände waren komplett mit Fotos bedeckt – manche in ausgefallenen Rahmen, andere mit doppelseitigem Klebeband an der Wand befestigt. Darauf waren lauter Leute, die ich dann auch kennenlernen sollte: Cecily und Opa, Mr Manning und Ms Delancey. Die meisten aus ihrer Familie kannte ich also schon, noch bevor ich sie sah.
Auf manchen Fotos war auch Julia drauf. Ein paar waren im Hotel, an ihrer Schule oder irgendwo auf einer Raftingtour aufgenommen, aber den größten Teil ihres Lebens hatte sie in einem riesigen Holzlandhaus verbracht, das ich erst später zu Gesicht bekam. Die Bilder waren über mehrere Jahre hinweg entstanden, und sie zu betrachten war wie eine Diaschau von Julias Jugend.
Man sah, dass sie sich gern fotografieren ließ, denn sie war immer ziemlich gut drauf, und nie hatte sie die Augen zu oder einen komischen Gesichtsausdruck. Als kleines Mädchen hatte sie leuchtend blonde Haare gehabt. Es war merkwürdig, sie als Vierjährige mit einem kleinen, pausbackigen Gesicht zu sehen, weil ich mir nie vorgestellt hatte, dass sie mal so jung gewesen war. Als ihre Haare ein wenig dunkler wurden, war sie auch schon größer und achtete mehr auf ihre Kleidung. Ein, zwei Jahre lang war sie ziemlich dürr, später hatte sie eine Zahnspange, dann brach sie sich ein Bein. Ihr Lächeln wurde schmaler, dann wieder breiter. Sie fuhr einen Pick-up und spielte Feldhockey. Sie bekam ein Saxofon. Dann waren auf den Bildern immer wieder verschiedene Jungen zu sehen, aber die blieben nie lang. Von Alvin gab’s keins.
Auf einem Foto stand Julia neben diesem schönen Landhaus auf einem Berg. Das Bild ist weit unten an dem Hügel aufgenommen, man kann also sehen, wie groß das Haus ist und wie klein sie daneben, und auch den Wald drum rum. Das war mein Lieblingsbild, und gleich als ich es sah, beschloss ich, es zu klauen. Ich ließ es in der Hosentasche meines Anzugs verschwinden, den ich mittlerweile nahezu jeden Tag trug. Das war das erste Mal, dass ich etwas klaute, ohne dass mich jemand anders auf die Idee brachte.
Ich war viel in Julias Zimmer, sah entweder fern oder spielte Poker. Meistens küssten wir uns am Ende noch ein bisschen, aber sie brach es immer ab. Dann sagte sie, es sei noch zu früh nach Alvin und dass es sich für sie ganz komisch anfühle. Das passierte ständig, und ich weiß auch noch, dass sie mich in den ersten Wochen nicht direkt ansehen konnte, jedenfalls nicht sehr lange. Wenn sie versuchte, mir in die Augen zu schauen, verlor sie die Beherrschung und wurde ganz kicherig.
Verbrachte ich die Nacht bei ihr, schlief ich auf dem Sofa, und manchmal, wenn ich aufwachte, saß sie aufrecht im Bett, fuchtelte mit Armen und Beinen und redete im Schlaf. Immerzu sorgte sie sich kurz auch wegen des Frühstücks, wer es wohl machte und was genau es geben würde. Wenn ich sie dann beruhigt hatte, schlief sie meistens wieder ein, aber manchmal blieb sie auch wach und redete noch mit mir, und das war dann immer sehr interessant, weil Julia ein anderer Mensch war, wenn sie schlief – sehr überlegt und zupackend –, und dann erzählte sie mir auch Sachen, die sie mir normalerweise nicht
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