Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
dass ich so lange hatte sitzen können. Die meisten von ihnen waren in meinem Alter, ungewöhnlich in einem Land, in dem beinahe eine ganze Generation ausgelöscht worden war. Vielleicht hatten die Roten Khmer die Nonnen einfach nicht gefunden, vielleicht hatten sie sie vergessen. Das Kloster selbst habe ich nicht gesehen, ich wollte mich nicht aufdrängen.«
Ihre nächsten Stationen waren Australien, Tasmanien, Neuseeland, Peru und die USA . Da sie in Kambodscha noch ein paar Tage Zeit bis zum Abflug nach Sydney hatte, fuhr sie an die Küste. Stundenlang spazierte sie über die wunderschönen Strände, sie lieà sich treiben, und jedes Mal, wenn sie eine der lieblichen Buchten entdeckte, ging sie schwimmen. In irgendeinem Fischerdorf nahm sie sich ein Motorradtaxi und lieà sich zum Hotel zurückbringen.
Doch einmal führte der Weg direkt in den Dschungel. Plötzlich stand sie an einem steilen Abhang. Unten waren drei bewaffnete Männer, die sie schon entdeckt hatten. »Ich weià nicht, was die vorhatten, bestimmt nichts Gutes. Ich hatte eine Riesenangst. Mir zitterten die Knie. Mir fiel nichts anderes ein, als mein freundlichstes Lächeln aufzusetzen und weiterzugehen. So sind wir Engländerinnen. Doch der Urwald wurde immer dichter, immer undurchdringlicher. Ich kam einfach nicht weiter. Also ging ich zurück. Wieder die drei Männer, die jetzt offensichtlich richtig wütend waren. Sie bedrohten mich mit den Gewehren. Sobald ich mich umdrehe, dachte ich, schieÃen sie mir in den Rücken. Ich habe mich noch nie so schutzlos gefühlt, in meinem ganzen Leben nicht. Es ist, wie ihr sehen könnt, gut gegangen. Wahrscheinlich weil ich absolut unverkennbar eine Touristin war.« Wahrscheinlich, meinte Sorrel, seien es Schmuggler gewesen, die auf eine Ladung warteten.
Es gab schwierige Momente, und doch hat Sorrel ihre Entscheidung nicht bereut, nach Kambodscha zu reisen. »Unser Leben hier verläuft so ruhig, so unaufgeregt. In Kambodscha bin ich bis an meine Grenzen gegangen, körperlich, aber auch mental. Die unglaubliche, erdrückende Armut zu sehen ⦠Bei uns zu Hause hört man ja immer wieder einmal von Leuten, die von Sozialhilfe leben und den ganzen Tag vor der Glotze hängen. Mein Verständnis dafür hält sich seither sehr in Grenzen.«
Ihre Weltreise war das Ergebnis einer Lebensphilosophie, die sie nach ihrer Scheidung entwickelt hatte. »Wenn man sich trennt oder scheiden lässt oder so etwas, steht man zwangsläufig vor einer Entscheidung: Wird man eine elende, verbitterte Alte, der ihr Mann abhandengekommen ist, oder nimmt man sein Glück in die Hand? Ich habe mich mit allem, was ich hatte, auf die zweite Möglichkeit gestürzt.
Doch was beim Reisen das Allerwichtigste ist, ist die richtige Begleitung. Es kann furchtbar sein, mit jemandem zu verreisen, der nicht auf der gleichen Wellenlänge ist wie man selbst. Ich reise inzwischen auch sehr gern allein, es gibt mir eine Menge. Ich muss mich nur um meine eigenen Bedürfnisse kümmern, und ich brauche vor allem keine Rücksicht zu nehmen, weil ich befürchte, dass mein Reisepartner sich durch mich eingeschränkt fühlt.
Am wichtigsten ist, sich viel Zeit zu lassen. Wenn dann irgendwas schiefgeht, hat man noch genug Zeit, die Dinge zu klären. Ich kann es überhaupt nicht leiden, spät dran zu sein. Wenn ich Angst habe, meinen Flug zu verpassen oder so. Und ich habe gelernt, leicht zu packen. Und immer ein gutes Buch einzustecken.«
Als ich das letzte Mal mit Sorrel sprach, plante sie gerade eine groÃe Reise zu ihrem Siebzigsten. Allerdings nicht nach Kambodscha â¦
6
DIE TYRANNEI DES
FÃNFUNDSECHZIGSTEN GEBURTSTAGS
»Unversehens beschleicht uns das Alter«, schrieb Simone de Beauvoir in ihrem Buch »Das Alter« (»La Vieillesse«). Sie glaubte, dabei Goethe zu zitieren, hat sich aber wohl geirrt. Trotzdem stimmt die Bemerkung. In der Mitte des Lebens denken wir nicht so oft über das Ãlterwerden nach. Doch dann häufen sich die Momente in denen wir spüren, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind. Sissis »Augenblicke der Wahrheit« haben das sehr deutlich gezeigt. Meistens gibt es einen bestimmten Auslöser: eine Krankheit, ein runder Geburtstag, der Tod eines Gleichaltrigen, das Ende einer Ehe oder Beziehung. Vielleicht sieht man nur ein Foto von sich, auf dem man sich nicht mag, oder man hört
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