Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
fortschritt und die Entwicklungen immer rasanter zunahmen, wurden immer jüngere, flexiblere und billigere Arbeitskräfte eingesetzt. »Alt« war auf einmal gleichbedeutend mit »nutzlos«. SchlieÃlich spielte es kaum noch eine Rolle, ob ein Arbeiter gesund und kräftig war oder nicht; wer alt war, musste seinen Platz räumen. Dafür bekam er dann die Rente.
Obwohl wir heute viel älter werden, obwohl sich die Lebenserwartung verdoppelt hat, haben wir an diesem System beinahe hundert Jahre festgehalten. Das ist mehr als erstaunlich. Die Rente ist nicht mehr ein Sicherungssystem für den Extremfall, für die ältesten Greise, sondern ein Grundeinkommen für die letzten zehn, zwanzig, manchmal dreiÃig Jahre, die man frei gestalten kann. Am erstaunlichsten aber ist, dass man Beamte im Ruhestand und andere sogar davon abhalten möchte zu arbeiten, und denjenigen, die es trotzdem versuchen, entsprechend die Bezüge kürzt.
Patrick M. Liedtke, der Generalsekretär und Geschäftsführer der Geneva Association, bezeichnet das System als Bismarcks Rentenfalle. Man greift in einer Weise in das Verhalten der Menschen ein, die dem System selbst am Ende nur schadet und es letztlich sogar zerstört. Am einen Ende entzieht man der Wirtschaft die von ihr benötigte menschliche Produktionskraft, zum Beispiel erfahrene und tüchtige ältere Arbeitnehmer, und am anderen fehlen die Jungen, die sie unterstützen können. Es ist eine nette Falle, man landet weich, das weià auch Liedtke, doch es bleibt eine Falle, »es sei denn, es gelingt, das Leben in seinen verschiedenen Phasen ganz neu zu durchdenken«.
Liedtke fordert die Gesellschaft auf, radikalere Lösungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen. »Warum«, fragte er, »haben wir die Lebenszeit, die in den letzten hundert Jahren dazugekommen ist, immer nur als Verlängerung der letzten, der inaktiven Phase angesehen? Wieso glauben wir, dass der Ruhestand so etwas sein muss wie eine Woche, die nur aus Sonntagen besteht? Warum ist es unserer Gesellschaft bisher nicht gelungen, ältere Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, warum schaffen wir nicht die entsprechenden Bedingungen?«
Liedtke wünscht sich eine Auseinandersetzung über unsere grundlegendsten Annahmen. Er räumt ein, dass es schwierig sein wird, bessere Kriterien für den Eintritt ins Rentenalter zu schaffen. Doch das chronologische Alter entspricht längst nicht immer dem biologischen. Gleichaltrige haben zum Teil sehr unterschiedliche körperliche und geistige Voraussetzungen. »Das Alter spielt eigentlich keine Rolle«, schreibt er, »was zählt, sind allein die Fähigkeiten, die man hat.«
Die Grenze von fünfundsechzig wird langsam aber sicher aufgelöst. In den USA , in GroÃbritannien und in Kanada ist die Pensionierung mit fünfundsechzig längst nicht mehr obligatorisch. In Kanada wird es als Menschenrecht angesehen, so lange zu arbeiten, wie man will. In den USA dagegen sind viele ältere Menschen gezwungen, eine schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen, weil das soziale Netz einfach nicht da ist.
In Deutschland und einigen anderen EU -Ländern hat man beschlossen, das Rentenalter in einem Zeitraum von vierundzwanzig Jahren auf siebenundsechzig heraufzusetzen, aller Voraussicht nach nicht einmal genug, um mit der steigenden Lebenserwartung Schritt zu halten. Im Jahr 2060 soll das Rentenalter dann siebzig Jahre betragen, dahinter steht die Rechnung, dass Menschen nicht mehr als ein Drittel ihres Lebens im Ruhestand verbringen sollen. Hört sich im Prinzip vernünftig an.
Zur Zeit ist es so, dass jedes Jahr eine Art gezwungener Ausmarsch der Fünfundsechzigjährigen stattfindet. Doch viele hören sogar noch früher auf, was eigentlich zeigt, dass die Menschen an dem System nichts ändern wollen. Als die französische Regierung 2010 vorschlug, das Rentenalter um zwei Jahre, auf zweiundsechzig, hinaufzusetzen, kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Die Regierung hat es trotzdem durchgesetzt. Auch in GroÃbritannien und anderswo kam es zu Protesten und Demonstrationen.
Doch nicht jeder ist bereit, die Arbeit aufzugeben und ein Leben im Halbschatten der Gesellschaft zu führen. Bismarck hätte sich bestimmt nicht träumen lassen, was sich beinahe tagtäglich im modernen Deutschland abspielt. Da ist zum Beispiel die Berlinerin Lisa Schneider, die ich im Café des
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