Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
einen kritischen Kommentar. Die meisten Menschen empfinden den Eintritt in das Alter nicht als sanften Ãbergang. Eher scheint es, als käme es in Schüben. Auf einmal sieht man nicht mehr so gut, dann ist man plötzlich nicht mehr so beweglich. Das kann einen aus der Bahn werfen, wie es Simone de Beauvoir erfahren hat. »Ich weià noch«, schreibt sie in La Vieillesse, »wie verblüfft ich war, als ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig krank wurde. Ich sagte mir: Diese Frau, die sie aus dem Haus tragen, bin ich.« Manchmal führen solche Momente zu einer tiefen, persönlichen Krise. So wie bei Sissi, als sie fünfzig wurde, und bei Laura, die viel älter war. Sie feierte ihren Siebzigsten, wurde zum ersten Mal GroÃmutter, und verliebte sich. Alles innerhalb kürzester Zeit. Das war einfach zu viel für sie.
Die meisten von uns können den Wendepunkt, den Augenblick der Wahrheit, an einem einzigen Ereignis festmachen. Und dieses Ereignis wirft seinen Schatten auf alles, was folgt, psychologisch und in jeder anderen Hinsicht: Es ist der Augenblick, an dem wir aufhören zu arbeiten.
Die wenigsten Menschen sehen ihr Leben als etwas Durchgängiges, Unteilbares an, wie ein einziges, durchgewebtes Stück Stoff. Erst recht nicht die jungen. Und sie denken mit einem Schaudern an das Alter, sie würden sich am liebsten gar nicht damit auseinandersetzen. Erst wenn sie älter werden oder wie Sissi darüber nachdenken, sich aus ihrer Beziehung zu lösen und allein zurechtzukommen, beginnen sie zu ahnen, was ihnen bevorsteht. Damals, als ich jung war, bestand mein Lebensplan darin, spätestens mit Mitte zwanzig zu heiraten und dann Kinder zu bekommen. Das warâs. Und darin unterschied ich mich auch nicht von den anderen Mädchen. Als ich feststellen musste, dass das Leben anders spielt, war ich erst einmal schockiert. Wahrscheinlich sind die Leute heutzutage etwas realistischer, als wir es waren. Und doch findet man auch heute kaum einen jungen Menschen, der sich Gedanken über die zweite Lebensphase macht, ganz zu schweigen vom Alter und vom Ruhestand. Aus diesem Grund habe ich immer eine gewisse Bewunderung für einen jungen afrikanischen Freund gehabt, der sein ganzes Leben im Voraus geplant hat. Er erklärte mir vor langer Zeit, dass er mit vierzig seine Stelle bei der UNO aufgeben wolle, um in seine Heimat zurückzukehren. Dort wollte er in die Politik gehen. Später würde er dann Land kaufen und Farmer werden. Daraus wurde schlieÃlich doch nichts, da er zum Generalsekretär der UNO ernannt wurde. Doch ich bin mir sicher, dass er den letzten Lebensabschnitt respektierte und sich genauso sehr damit beschäftigte, wie mit seinen jüngeren Jahren.
Es ist Bismarck, dem ersten deutschen Kanzler, zu verdanken, dass ein Jahrhundert lang praktisch jeder mit fünfundsechzig in Rente gegangen ist. Als der Eiserne Kanzler 1889 das erste Rentensystem in Deutschland (und der ganzen Welt) einführte, setzte er das Rentenalter allerdings auf siebzig Jahre an. Bismarck selbst war damals bereits vierundsiebzig, doch die durchschnittliche Lebenserwartung betrug gerade einmal siebenunddreiÃig Jahre. Das Rentenversprechen und einige weitere Sozialleistungen, die er einführte, kosteten den Staat also nicht viel, genügten aber, um den Sozialisten, die den autoritären Staat bedrohten, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Selbst als Bismarck schon achtzehn Jahre tot war und das Rentenalter auf fünfundsechzig herabgesetzt wurde, hatten nur die wenigstens etwas davon. Im Bezug auf die heutige Lebenserwartung wären wir jetzt, wenn man das weiterführen würde, bei einer Rente mit fünfundneunzig angekommen. Die meisten anderen Länder folgten dem deutschen Beispiel und setzten das Rentenalter ungefähr auf fünfundsechzig fest.
Bismarck ging es nicht darum, die Menschen aus der Arbeit zu drängen. Es ging ihm darum, die Beschwerden zu lindern, die mit dem Alter kommen. Damals gab es weder Antibiotika noch Zentralheizungen, und niemand wusste, was Omega-3-Fettsäuren sind. Damals tat man, was man immer getan hatte: Man arbeitete, bis man starb oder bis man einfach nicht mehr konnte. Wer Glück hatte, wurde von seiner Familie versorgt. Die Idee des Rentnerdaseins, die Vorstellung, dass man nach einem arbeitsreichen Leben eine jahrzehntelange Freizeit genieÃt, existierte damals noch nicht. Erst als die Industrialisierung
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