Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
Literaturhauses in der FasanenstraÃe in Berlin getroffen habe. Sie ist voller Lebensmut, sie ist fit und bestens qualifiziert. Sie hat Semiotik, Politikwissenschaft, Englisch, Soziologie und Vergleichende Literaturwissenschaften studiert, und zwar in fünf Ländern, jeweils an den besten Universitäten. Sie hat drei akademische Grade und spricht fünf Sprachen. Sie hat als Journalistin gearbeitet und Dokumentationen für das Fernsehen gedreht. An der Columbia Universität in New York hat sie Vorträge gehalten und an Forschungsprojekten teilgenommen. Sie hat im Theater gearbeitet und beim Film, sie hat Bücher veröffentlicht und ein Literaturfestival geleitet. Und falls sich das alles nicht gewichtig genug anhört: Einige Jahre war sie für die UNESCO und verschiedene andere UNO -Organisationen in Südamerika, in Indien und China tätig. Doch offenbar genügt all das nicht, um in Deutschland eine angemessene Stelle zu finden. Ãberall wurde sie abgelehnt. Warum? Weil sie kurz vor ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag stand. »Es geht leider nicht mehr, Sie sind zu alt, hieà es dann immer«, erzählt sie. »Selbst wenn ich erklärte, dass ich unbedingt weiterarbeiten will.« Ihr Vertrag bei der UNO lief aus, aber sie war einfach noch nicht bereit aufzuhören. Doch egal, wo sie anfragte, immer bekam sie die gleiche Antwort: »Was wollen Sie denn noch machen? Lassen Sie die Jungen ran.« Nicht einmal ihre eigenen Freunde, nicht einmal die Frauen in ihrem Alter, hatten Verständnis für sie. »Das ist halt so«, sagten sie nur, »damit musst du dich abfinden.«
»Plötzlich wird man nicht mehr gebraucht. Nachdem man ein Leben lang erfolgreich war, wird man jetzt ausgesondert wie Müll.« Sie ist heute noch wütend darüber. »Kein alter Mensch darf mehr Jobs haben! Raus aus den Jobs!« Sie kam sich wie eine Verbrecherin vor, nur weil sie arbeiten wollte. Sie habe sich gefühlt wie in einem Schleudersitz, erzählte sie mir, sodass sie schlieÃlich in eine tiefe Depression gefallen sei. Anderthalb Jahre lang war sie wie gelähmt, weil sie sich überflüssig vorkam, das Telefon nicht mehr klingelte. Sie war am Ende.
Zum Glück kannte sie einige Leute in der Filmbranche. Einer schlug ihr vor, ein Drehbuch zu verfassen. Sie hatte schon einmal begonnen, einen Spielfilm über das berühmte Opernhaus Teatro Amazonas in Brasilien zu schreiben, doch daraus war nichts geworden. Sie nahm das Manuskript wieder hervor und begann, es zu überarbeiten. Obwohl sie bis dahin nur Dokumentarfilme gemacht hatte, scheint ihr Projekt ausgesprochen erfolgversprechend zu sein. Ein amerikanischer Produzent hat sich schon gemeldet, der sehr daran interessiert ist. Lisa schreibt jeden Tag von 10 bis 14 Uhr, dann noch einmal von 22 Uhr bis halb drei am Morgen. Sie wirkt sehr zufrieden. »Meine Freunde haben mich aufgepäppelt und motiviert«, sagt sie, »jetzt bin ich wieder ich selbst.«
Mir selbst erging es ähnlich. Es begann damit, dass ich an einem grauen Montag im November des Jahres 1996 an einem Tisch in der Berliner Paris Bar saà und wartete. Die Paris Bar gehörte damals zu meinen Lieblingsrestaurants. Drei Stunden vorher hatte die Sekretärin meiner Zeitung aus London angerufen und gesagt, der Geschäftsführer sei auf dem Weg nach Berlin und wolle sich zum Mittagessen mit mir treffen.
Mir war klar, was mich erwartete. Der Mann hatte mich erst zwei Jahre vorher abgeworben, kurz nachdem er selbst eingestellt worden war. Er hatte es als eine Art Coup verkauft und war sehr stolz auf sich. Was er nicht wusste, war, dass bei mir noch andere, geheime Ãberlegungen hineinspielten. Die britische Zeitungsindustrie befand sich auf dem Weg in eine existentielle Krise. Die Zeitung, für die ich arbeitete, war zwar sehr angesehen, stand aber finanziell auf wackligen FüÃen. Jeder von uns spürte, dass er der Nächste sein könnte. Ich dachte, wenn ich schon gefeuert werde, dann lieber von einer reichen Zeitung als von einer armen. So kam der Wechsel zustande.
Glücklich war ich nicht. Bald schon kam ein neuer Herausgeber, die ehemals berühmte Zeitung wurde immer reiÃerischer und ähnelte bald einem Boulevardblatt. Einmal schickte man mich zum Beispiel nach Bayern, um über einen katholischen Priester zu berichten, der ein Kind mit seiner Haushälterin gezeugt hatte. Das entsprach nicht gerade
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