Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
Vater davon zu überzeugen, dass sie zur Ehefrau und Mutter nicht geeignet sei. Er gab ihr die Erlaubnis zu studieren. Acht Monate benötigte sie, um in Latein, Griechisch und Mathematik so weit aufzuholen, dass sie das Abitur machen konnte. Da sie kurz zuvor miterlebt hatte, wie ein enger Familienfreund schmerzhaft an Krebs gestorben war, schrieb sie sich für Medizin ein, später spezialisierte sie sich auf die Neurologie.
Dann kamen die Faschisten, später die Nazis. Als Mussolini 1938 die Rassengesetze einführte, musste die Jüdin die Turiner Universität verlassen und floh mit ihrem Professor und Mentor, dem berühmten Histologen Giuseppe Levi, nach Belgien. Kurz bevor die Deutschen dort einfielen, floh sie noch einmal â zurück nach Turin. Als die Stadt bombardiert wurde, fand sie auf dem Land, im Piemont, Unterschlupf. SchlieÃlich wechselte Italien die Seite, und die Deutschen marschierten ein. Rita lebte in ständiger Angst und versteckte sich mit ihrer Familie in Florenz.
Während dieser ganzen Zeit arbeitete sie. Im Schlafzimmer richtete sie ein Behelfslabor ein, wo sie jene Experimente an Hühnerembryos fortsetzte, die später zur Entdeckung des Nervenwachstumsfaktors (Nerve Growth Factor â NGF), ihrem wichtigsten wissenschaftlichen Erfolg, führten. Nach der Befreiung durch die Alliierten arbeitete sie als Ãrztin in einem Auffanglager bei Florenz. Die Flüchtlinge aus dem Norden, wo der Krieg noch wütete, litten an Typhus, Cholera und anderen Krankheiten. Viele starben.
1947 erhielt sie eine Einladung der Washington University in St. Louis für ein Forschungsjahr. DreiÃig Jahre später war sie immer noch dort. Mit ihrem Studenten Stanley Cohen wies sie 1952 das NGF nach, ein Protein, das dem spezialisierten Wachstum von Nervenzellen zugrunde liegt. Wer heute die Geschichte ihrer Forschungsarbeit liest, kommt aus dem Staunen nicht heraus, doch die Fachwelt brauchte lange, bis sie ihren wissenschaftlichen Durchbruch zu würdigen wusste. Ihre Kollegen lieÃen sich nicht überzeugen, selbst enge Freunde sperrten sich. Erst 1986, vierunddreiÃig Jahre nach der Entdeckung, erhielt sie die gröÃte Anerkennung für ihre Arbeit, den Nobelpreis für Medizin.
Trotz ihrer Hingabe an die Arbeit sehnte sie sich nach Italien und nach ihrer Familie. 1961, im Alter von zweiundfünfzig, berief sie der Nationale Forschungsrat Italiens zur Direktorin eines seiner angesehensten Institute. Die Arbeit in den USA setzte sie fort, und so führte sie ein Pendlerleben, das sie enorme Kraft gekostet haben muss.
1977 wurde sie offiziell von der amerikanischen Universität pensioniert, zwei Jahre später, mit siebzig, auch von dem italienischen Institut. Doch Rita wäre nicht Rita gewesen, wenn sie nun aufgehört hätte zu arbeiten. Sie blieb ihrem Institut als Gastprofessorin verbunden und verfasste zahlreiche Bücher und Artikel. 1992 gründete sie gemeinsam mit ihrer inzwischen verstorbenen Zwillingsschwester Paola, die sich einen Namen als Künstlerin gemacht hatte, eine Stiftung, die Frauen in den ärmsten, rückständigsten Ländern Afrikas einen Zugang zur Bildung verschafft. Zu den über hundert Projekten, die bisher unterstützt wurden, gehören ein Alphabetisierungsprojekt für Frauen in Ãthiopien und Burkina Faso, berufsbildende MaÃnahmen und die Ausbildung von Krankenschwestern bis hin zu Universitäts- und Forschungsstipendien. AuÃerdem gründete sie in der Nähe von Rom das Europäische Institut für Hirnforschung, wo neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson erforscht werden.
2001, als Rita zweiundneunzig Jahre alt war, wurde ihr die gröÃte Ehrung zuteil, die der italienische Staat zu vergeben hat: Man ernannte sie zur lebenslangen Senatorin, und sie erhielt einen Sitz im Parlament. Doch statt sich zurückzulehnen und die Anerkennung zu genieÃen, stürzte sie sich in die Politik. Sie arbeitete in den Ausschüssen für Gesundheit, Bildung und Menschenrechte. 2006 löste sie im Senat mit ihrer Stimme ein Patt, rettete die Linksregierung von Romano Prodi und zog den Zorn der Ultra-Rechten auf sich. Ihr Abstimmungsverhalten löste einen Sturm von Kommentaren aus, die sie als Jüdin verunglimpften und als alte Frau beleidigten. Der Führer einer rechten Splitterpartei, Francesco Storace, verkündete, der Senatorin Levi-Montalcini ein Paar
Weitere Kostenlose Bücher