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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clough Patricia
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Krücken schicken zu wollen, »wir wissen ja, wo sie wohnt«. Es wirkte wie eine Drohung. Neben dem offensichtlichen Verweis auf ihr Alter sollten die Krücken ein Bild dafür sein, dass die Regierung allein auf ihre Stimme gestützt war.
    Rita ließ sich nicht einschüchtern: »Ich brauche keine Krücken«, sagte sie, »ich bin in vollem Besitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte und werde weiterhin von meinem Recht Gebrauch machen, im Parlament abzustimmen.« Sie ging zum Gegenangriff über: »Ich habe nichts als Verachtung übrig für diese Schwachsinnigen. Ihr Verhalten lässt sich unmittelbar aus den totalitären Systemen der Vergangenheit ableiten.« Führende Politiker, darunter der italienische Präsident Giorgio Napolitano, unterstützten sie und protestierten gegen die Attacken der Rechten. Der Chor ihrer Stimmen unterstrich, wie beliebt diese würdevolle, weißhaarige Dame im Land geworden war. Was allerdings die rechtsgerichtete Liga Nord nicht davon abhielt, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das die öffentlichen Gelder für ihr Forschungsinstitut streichen sollte. Der Entwurf wurde vom Unterhaus mit großer Mehrheit abgelehnt.
    Sehr wenigen Menschen ist es vergönnt, ein so langes und einflussreiches Leben zu führen wie Rita Levi-Montalcini, trotzdem können wir aus ihrer Geschichte einiges lernen. Hätte sie mit fünfundsechzig einfach aufgehört zu arbeiten, hätte sie keine weiteren Entdeckungen zum Nervenwachstumsfaktor gemacht. Wir wüssten nichts über seinen Einfluss auf das menschliche Immunsystem, das Hirnforschungszentrum gäbe es nicht, die italienische Politik wäre einen anderen Weg gegangen, zehntausend afrikanische Mädchen und Frauen hätten ihre Stipendien für Schulen und Universitäten nicht erhalten.
    Kurz nachdem ich sie für dieses Buch um ein Interview gebeten hatte, stürzte sie und brach sich ein Bein. Die damals Hundertzweijährige musste kürzertreten. Sie führt jetzt ein ruhigeres Leben und gibt keine Interviews mehr. »Wir haben immer wieder vergessen, wie alt sie eigentlich ist, weil sie so aktiv war«, erklärte mir ein Mitarbeiter des Instituts, »jetzt sind wir tatsächlich überrascht, dass sie so alt ist.« Ich hätte sie sehr gern gefragt, was sie vom Ruhestand hält und von den Möglichkeiten der Frauen, sich im Alter zu engagieren. Zu ihrem hundertsten Geburtstag schien sie in der London Times zu bestätigen, was viele Wissenschaftler längst geahnt hatten: dass das Gehirn im Alter immer besser wird. »Ich sehe und höre nicht mehr so gut, aber meinem Gehirn geht es gut. Ich glaube, dass meine geistigen Fähigkeiten heute, aufgrund der vielen Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, weiter entwickelt sind als früher.« Mit hundert Jahren sagte sie: »Noch heute arbeiten wir daran, den Nervenwachstumsfaktor besser zu verstehen, den ich vor über einem halben Jahrhundert entdeckt habe.«
    Rita lebt einfach, beinahe spartanisch, und die Frage drängt sich auf, ob das in einem Zusammenhang mit ihrer Langlebigkeit steht. Sie steht um fünf Uhr auf, isst nur eine Mahlzeit am Tag – zu Mittag – geht um elf Uhr schlafen. »Manchmal genehmige ich mir abends eine Suppe oder eine Orange, das ist aber auch schon alles«, sagt sie. »Ich interessiere mich nicht so sehr für Essen oder für Schlaf.«
    Aber da ist ja noch die Arbeit. Noch mit hundert ging sie jeden Morgen ins Labor, die Nachmittage verbrachte sie in der Stiftung. »Falls es ein Rezept gibt«, erklärt sie, »dann wohl dieses: Man darf nie aufhören zu denken. Und man muss aufhören, über sich selbst nachzudenken.«

7
UND WAS BIN ICH,
WENN ICH NUR FÜR MICH SELBST BIN?
    Natürlich kann man in Italien leben, ohne sich in die örtlichen Angelegenheiten einzumischen, viele Ausländer machen es so. Doch es gibt ebenso viele, die nach einiger Zeit beginnen, sich für die Vorgänge im Ort zu interessieren. Erst zögerte ich, als ich, zwei Jahre nachdem ich mein Haus gekauft hatte, feststellte, dass in dem wunderschönen Tal unterhalb unseres uralten, historischen Orts hässliche Fabriken und Lagerhäuser entstanden, nur um dann zum Teil leerzustehen. Ich lud Freunde und Bekannte zu mir ein, die ähnlich dachten wie ich, um das Problem zu diskutieren. Wir redeten und klagten über die Situation,

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