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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clough Patricia
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unterzutauchen. Eine freundliche Wäscherin, die von einem Soldaten erfahren hatte, was mit den deportierten Juden geschah, bot ihnen ein Versteck in der Wäscherei an. Zum Glück hatte Weidt Inge falsche Papiere und eine Arbeitserlaubnis besorgt, so konnte sie weiterhin tagsüber arbeiten. Ein Zimmer hinter der Werkstatt wurde als Versteck für eine jüdische Familie hergerichtet, die Tür befand sich hinter einem großen, gut gefüllten Kleiderschrank, dessen Rückwand herausgenommen war. Doch die Familie wurde verraten und kam nach Auschwitz. Im Februar 1943 startete die Gestapo die sogenannte Fabrikaktion. Juden wurden aus den letzten Betrieben geholt, bis man Berlin für »judenrein« erklären konnte. Inge hatte vorher davon erfahren und war nicht zur Arbeit gegangen, sie harrte in der Wäscherei aus. Als sie einige Tage später in die Werkstatt kam, war sie beinahe wie ausgestorben. Die jüdischen Arbeiterinnen waren verschwunden.
    Inge und ihre Mutter überlebten, sie gaben sich neue Namen und wechselten immer wieder das Versteck. Otto Weidt war verzweifelt, doch er gab nicht auf. Er bestach die Gestapo, seine Juden nach Theresienstadt zu schicken, ein Lager, das als privilegiert galt. Auch hier waren die Zustände unerträglich, aber ein Vernichtungslager wie Auschwitz war es nicht. Weidt unterstützte die Juden in ihren Verstecken, und er schickte Pakete in die Lager. Seiner Sekretärin Alice Licht, mit der er wohl ein Verhältnis hatte, gelang es mit seiner Hilfe, aus Auschwitz zu fliehen. Nach dem Krieg gründete Weidt ein Waisenhaus und ein Seniorenheim für die Überlebenden aus den Lagern. Er starb 1947.
    In der geteilten Stadt hatte die Blindenwerkstatt für Inge unerreichbar im Osten gelegen. Erst 1988 konnte sie mit den Leuten vom Grips Theater den Ort besichtigen, an dem sie und viele andere zwei Jahre in Todesangst ausgeharrt hatten. Erstaunt stellte sie fest, dass alles genauso aussah, wie sie es in Erinnerung hatte. Die Werkstatt hatte seit dem Krieg leergestanden, nur einmal war sie kurz benutzt worden. Die Eigentümer des Gebäudes lebten im Ausland. Im Büro hing noch die Tapete, die Weidt ausgesucht hatte, die wenigen Möbel standen alle noch an ihrem Platz. Und im letzten Zimmer gab es immer noch den Kleiderschrank, der eine Tür verbarg, die zu dem Raum mit den zugenagelten Fenstern führte, in dem sich andere Juden versteckt hatten. Die Dielen knarrten wie damals, als sie sich kaum zu gehen trauten, aus Angst, die Gestapo könnte ihre Schritte hören.
    Ich wollte wissen, wie es sich für sie angefühlt hat, diesen Ort noch einmal zu betreten. »Meinst du, es war leicht? Ich habe mich an dem Abend betrunken.«
    Doch dann wurde sie noch einmal aktiv. Als Erstes setzte sie einen Brief an ein DDR -Amt auf, mit dem Vorschlag, eine Plakette zu Ehren von Otto Weidt anzubringen. Ausführlich beschrieb sie die Geschichte der Werkstatt. Doch sie erhielt keine Antwort. Nach der Wende erzählte ihr eine Frau, die beim ostdeutschen Denkmalschutz gearbeitet hatte, dass der Staat das Gebäude eher abgerissen hätte, als eine solche Plakette anzubringen. Selbst nach der Wende war es verboten, ohne die Einwilligung des Eigentümers ein Schild anzubringen. Und es gab nicht nur einen Eigentümer, sondern an die dreißig, und sie waren auf der ganzen Welt verstreut. Inge bat die CDU -Politikerin Hanna-Renate Laurien, damalige Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, um Rat. Frau Laurien zögerte nicht: »Frau Deutschkron, bringen Sie die Tafel an. Denjenigen möchte ich mal sehen, der Sie dafür verklagt.« Inge brachte das Schild an. Später wurde es durch eine Bronzeplatte ersetzt, die in den Asphalt am Hofeingang eingelassen wurde. Wer hätte sich daran stören sollen? »In diesem Haus befand sich die Blindenwerkstatt von Otto Weidt«, ist dort zu lesen, »hier arbeiteten in den Jahren 1940 bis 1945 vornehmlich jüdische Blinde und Taubstumme. Unter Einsatz seines Lebens beschützte Weidt sie und tat alles, um sie vor dem sicheren Tod zu retten. Mehrere Menschen verdanken ihm das Überleben.«
    Anfangs sah es nicht danach aus, dass die alte Werkstatt mit all den daranhängenden Erinnerungen gerettet werden könnte. Inge und ihren Unterstützern fehlte das Geld. Außerdem wurde inzwischen das gesamte Gebäude genutzt, bis auf einen einzigen, mit Schutt gefüllten

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