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Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein

Titel: Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clough Patricia
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selten. Vielen Berufstätigen gelingt es nur unter größten Schwierigkeiten, die Pflege der Eltern und den Beruf unter einen Hut zu bringen. Die Bundesregierung hat zumindest einen kleinen Schritt in die richtige Richtung getan. 2012 trat ein Gesetz in Kraft, das es Arbeitgebern und Arbeitnehmern erlaubt, individuelle Lösungen zu finden und die Arbeitszeit auf bis zu 50 Prozent zu reduzieren. Die Arbeitnehmer erhalten in dieser Zeit 75 Prozent ihrer Bezüge, die Differenz wird ausgeglichen, wenn die volle Arbeitszeit wieder erreicht ist. Wer absehen kann, dass er von dieser Regelung Gebrauch machen wird, kann bereits im Vorfeld etwas ansparen, indem er sich das Gehalt nicht voll auszahlen lässt. Es funktioniert wie eine Versicherung.
    Bisher war es nur möglich, zur Pflege eines Angehörigen sechs Monate unbezahlt freizunehmen, insofern ist das neue Gesetz ein Fortschritt. Leider ist kein Arbeitgeber verpflichtet, an dem neuen System teilzunehmen. Zudem können viele Menschen nicht einfach auf ein Viertel ihres Gehalts verzichten. Auch genügen zwei Jahre manchmal nicht, viele alte Menschen sind viel länger pflegebedürftig.
    Und die Pflegesituation bringt auch noch andere Schwierigkeiten mit sich, die von den Angehörigen, die die Pflege übernehmen, unterschätzt werden. Das Bundesministerium für Gesundheit und andere Organisationen warnen davor, dass die körperlichen wie mentalen Belastungen für den Pflegenden sehr groß sind. Zudem besteht die Gefahr, dass die emotionale Abhängigkeit zwischen dem Pflegenden und dem Pflegebedürftigen zu groß wird. Verstärkt durch den Druck und die Verantwortung, ist der Pflegende in ständiger Sorge und hat das Gefühl, ohne den geliebten Menschen nicht leben zu können. Alines Freunde zum Beispiel meinen, dass sie sich nicht in der Weise für ihre Mutter aufopfern müsste, wie sie es tut. Sie sind der Überzeugung, dass die Mutter durchaus auch von einer bezahlten Kraft versorgt werden könnte. Am Finanziellen liegt es sicher nicht. Aline könnte ein normaleres Leben führen, doch sie besteht darauf, dass ihre Mutter mit einer anderen Lösung nicht glücklich wäre. Ist das alles nur reine Liebe und Aufopferung, oder sind noch andere, komplexere Faktoren im Spiel? Hat sie das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen? Ist es ihr nicht gelungen, sich von der Mutter abzunabeln?
    Selbst wenn das Verhältnis zwischen dem Pflegenden und dem Pflegebedürftigen ursprünglich gut war, wird es in der Pflegesituation oft bis an die Grenzen belastet. Wenn es bereits Probleme gab, werden diese noch verstärkt. Irgendwann geht es dann nicht mehr.
    Â»Das ist keine Seltenheit«, erklärte mir Gabi, eine Gestalttherapeutin. »In vielen Fällen ist es so, dass die Mutter verwitwet ist und von ihrer Rente kaum leben kann. Also zieht die unverheiratete, vielleicht geschiedene Tochter ein. Finanziell ist das nachvollziehbar, aber es kann auch eine Falle sein. Zum Beispiel kenne ich eine sechsundachtzigjährige Frau, die jeden Mann, mit dem ihre Tochter jemals eine Beziehung hatte, verjagt hat. Jetzt leben sie zusammen, aber glücklich sind beide nicht. Sie sind wie ein altes, zerstrittenes Paar, ständig mäkeln sie aneinander herum. Die Atmosphäre in der Wohnung ist total vergiftet. Die Mutter ist so alt und hilfsbedürftig, dass die Tochter mittlerweile eine Art Mutterrolle übernommen hat, was die Mutter natürlich nicht akzeptieren kann. Sie ist nicht bereit abzudanken. Die Ursachen solcher symbiotischer Verhältnisse liegen oft weit in der Vergangenheit. Tatsache ist auf jeden Fall, dass sie einander nicht loslassen können. Vielleicht wünscht die Tochter heimlich den Tag herbei, an dem sie frei ist, doch wenn die Mutter dann stirbt, ist sie am Boden zerstört. Es ist eine kranke Form der Abhängigkeit. Töchter, die selbst Kinder haben, sind viel seltener betroffen als solche, die kinderlos geblieben sind.«
    Auch Mutter-Sohn-Beziehungen sind manchmal äußerst problematisch. Wie komplex es werden kann, zeigt der Fall einer vierundsiebzigjährigen, geschiedenen Frau. Sie lebte längst wieder mit einem neuen Mann zusammen, hatte dabei aber Schuldgefühle ihrem Sohn gegenüber, dem die Scheidung damals sehr zu schaffen gemacht hatte. Nicht zuletzt ihrem Sohn zuliebe hatte sie ein gutes, beinahe freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Ex-Mann entwickelt,

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