Vom Vergnugen eine altere Frau zu sein
allein. Sie erzählte dem Hausmädchen, dass zwei Freunde verhaftet worden seien. »Ich werde einen Koffer mit den nötigsten Sachen bereitmachen. Es wird besser sein, wenn wir alle morgen nicht hier schlafen.«
Sie waren unendlich erleichtert, als ihr Vater unversehrt nach Hause kam. Doch schon bald verlor er seine Stelle an der Schule. Freunde verschwanden, niemand wusste, wohin. Nachbarn bespitzelten und verrieten sie und ihre Bekannten, die Gestapo kam und durchsuchte die Wohnung, bis nichts mehr an seinem alten Platz stand. Einige der jüdischen Freunde emigrierten, andere machten sich zwar Sorgen, waren aber überzeugt, dass der Spuk bald vorüber sein würde. Doch es wurde immer schlimmer: die Reichskristallnacht, der vollständige Boykott, die Schikanen, die Beleidigungen. Die Deutschkrons mussten umziehen, Inge kam auf eine neue Schule. Sie durfte nicht mit anderen Kindern auf der StraÃe spielen, es war zu gefährlich. Ihr Vater erhielt schlieÃlich ein englisches Visum. Ein Cousin hatte eine groÃe Garantiesumme hinterlegt, um nachzuweisen, dass für den Staat keine Kosten entstehen würden. Inge und ihre Mutter würden, davon ging man aus, bald ebenfalls die Erlaubnis zur Einreise erhalten. Doch bevor sie Deutschland verlassen konnten, brach der Krieg aus. Als sie die fürchterliche Nachricht hörten, versuchten sie verzweifelt, ihn anzurufen, doch die Telefonisten sagte immer nur: »England antwortet nicht.« Sie saÃen in der Falle. Sechs furchtbare Jahre lang.
Da sie das Abitur nicht ablegen durfte, machte Inge eine Ausbildung am jüdischen Kindergärtnerinnen-Seminar, das glücklicherweise noch nicht geschlossen worden war. Später arbeitete sie für eine reiche jüdische Familie als »Haustochter«, eine Art Hausmädchen, bis man den Juden verbot, Personal zu halten. Sie wurde mit anderen jüdischen Mädchen zu einer Seidenfabrik der IG Farben geschickt, wo das Material für Fallschirme hergestellt wurde. Sie musste zehn Stunden am Tag im Stehen arbeiten, weitere drei Stunden stand sie im Bus und in der Bahn, um zur Arbeit zu kommen. Juden durften sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr hinsetzen. Nur wer krank war, konnte der Arbeit entgehen. Also zog Inge die Schuhe mit den höchsten Absätzen an, die sie finden konnte. Es war eine Qual, doch bereits nach drei Tagen konnte sie ihr rechtes Knie nicht mehr bewegen. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Der Fabrikarzt schrieb sie krank. Sie wurde, wie sie gehofft hatte, in Otto Weidts Blindenwerkstatt eingesetzt.
Otto Weidt, selbst beinahe blind, war ein auÃerordentlicher Mann. Im Hinterhof der RosenthalerstraÃe 39 beschäftigte er in seiner weitläufigen Werkstatt etwa dreiÃig blinde und taubstumme Juden, die Besen und Bürsten herstellten. Er selbst war kein Jude. Da er einen Liefervertrag mit der Wehrmacht hatte, war es ihm gelungen, die Werkstatt als »wehrwichtigen Betrieb« zu deklarieren. Dies erlaubte ihm, Material für seine Produkte zu beziehen, die â man mag es heute kaum glauben â als Mangelware überaus begehrt waren. Weidt, ein auÃerordentlich mutiger und einfallsreicher Mann, war ein Virtuose des Schwarzmarkts. Er verwies immer auf die schwierige Lage bei den Rohmaterialen und schickte der Wehrmacht niemals die volle Bestellung. Die restlichen Besen und Bürsten tauschte er gegen Parfüm, Kleidung, Nahrungsmittel und andere begehrte Güter, mit denen er wiederum die Gestapo und die Nazioffiziellen bestach. Gleichzeitig half er den Juden in seiner Belegschaft, er beschützte und versteckte sie. Nur wenn die Nazis zur Besichtigung in der Werkstatt waren, verhielt er sich auch wie ein Nazi. Inge arbeitete in seinem Büro. Wenn die Nazis kamen, schlüpfte sie schnell in einen bereitliegenden Overall mit dem Judenstern, stellte sich an die Werkbank und tat, als würde sie Besen binden. Juden durften nur für die einfachsten Arbeiten eingeteilt werden.
Bald begannen die Deportationen. Verwandte, Freunde und Nachbarn wurden verschleppt. Otto Weidt gelang es immer wieder, »seine« Juden zu retten. Er stürmte in die Büros der Gestapo und protestierte lauthals, weil er ohne sie seine »wehrwichtigen« Aufträge nicht erfüllen könne. Vermutlich kamen auch bei diesen Auftritten die Güter vom Schwarzmarkt zum Einsatz. Nach einiger Zeit rieten nicht-jüdische Freunde Inge und ihrer Mutter
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