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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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frei von jenem erstarrten Muster, aus dem man sich so schwer lösen kann, in dem die Zeit immer schneller und schneller verläuft und die Gedanken nicht hinterherkommen. Die mit der Bewegung einhergehende Veränderung der Zeit hat jenen beglückenden, psychologischen Effekt, dass man scheinbar genug davon besitzt, wenn man unterwegs ist. Wandern ist die langsamste Form des Reisens. Es geht allmählich, wie das Leben auch, und man will heimatlos bleiben, will nirgendwo ankommen, will die Freiheit und Unbestimmtheit auskosten. Das Fremde zu fühlen, darin zu lesen und nicht darin zu versinken, das ist das Geheimnis. Es ist die Schwebe, die einen trägt.
    Je länger der Weg, desto eher besteht aber auch die Gefahr der Gewöhnung, und dann wird das Wandern alltäglich und verliert seinen Reiz. Deswegen muss es irgendwann auch ein Ende haben, so wie alles seine Zeit hat.
    Eine Stunde ist seit unserem Aufenthalt unter der Brücke vergangen, und nichts hat sich verändert. Irgendwann setzt bei solch öden Wegen ein seltsamer Mechanismus ein. Ich habe es eben angedeutet. Man verabschiedet sich von seiner Umgebung und schaut nach innen, lässt sich von seinen Gedanken und Phantasien in andere Welten tragen. Dass man läuft, nimmt man gar nicht mehr wahr. Es entwickelt sich ganz von allein ein gleichmäßiger, beständiger Rhythmus, der nach und nach eine suggestive Kraft entfaltet und dich wie das sanfte Schaukeln und das gleichmäßige Rattern eines Zugwaggons zwar nicht in den Schlaf, aber in einen tranceartigen Zustand versetzt, in dem du nichts mehr von dem, was um dich herum ist, wahrnimmst.
    So geht es mir. Ich bin abgetaucht. Denke an meine Frau, dann an meine Musik. Motive für die Titel der CD, an der ich gerade arbeite, tauchen auf, setzen sich fest. Der Gedanke, all das, was ich während dieser Wanderung gesehen, erlebt, gedacht und gefühlt habe, in einem Buch festzuhalten, nimmt Formen an: Sätze für eine Einleitung entstehen spontan, ich könnte sie so niederschreiben.
    Irgendwann ein ungewohntes Geräusch oder eine Bemerkung von meinem Wanderbruder, und wie in Zeitlupe tauche ich wieder auf, für den Bruchteil einer Sekunde völlig irritiert.
    Über fünf Stunden sind wir auf diese Weise unterwegs, immer entlang der Wertach, bis wir dann vor den Toren Türkheims im Landkreis Unterallgäu am südlichsten Zipfel des Naturparks Augsburg Westliche Wälder stehen.
    Dereinst siedelten die Merowinger, die aus einer Schlacht mit den Alemannen um dieses Gebiet siegreich hervorgingen, einen zwangsverschleppten, thüringischen Familienverband hier an. Der Name des Städtchens Türkheim leitet sich davon ab: Heim des Thüringers. Knapp 7.000 Einwohner leben heute in dem beschaulichen Flecken, der bayrischer anmutet als all jene Orte, durch die wir in den letzten Tagen gewandert sind.
    In dem gediegenen Schlosscafé suchen wir uns einen Tisch, bestellen Apfelkuchen mit Schlagsahne, einen Pott Kaffee und strecken die Beine unter dem Tisch aus. Eine Gruppe älterer Herrschaften sitzt uns gegenüber, schaut immer wieder her und steckt tuschelnd die Köpfe zusammen. Die unterhalten sich über uns, das spürt man. Endlich traut sich einer und stellt die entscheidende Frage: „Na, wo kommt ihr denn her?“
    Wir erzählen unsere Story und treffen auf dankbare, neugierige Zuhörer. Auch nachdem das Gespräch verebbt ist, unterhalten sie sich weiter über uns und den Marsch. Sie sind beeindruckt, und wir genießen den Respekt und die Anerkennung, die sie uns entgegenbringen.
    Genau schauen sie sich an, wie wir unsere Ausrüstung anlegen, die Rucksäcke aufnehmen und mit den Wanderstöckern in der Hand aufbrechen. Gönnerhaft und geschmeichelt heben wir die Hand zum Gruß, und fast unisono werden wir verabschiedet, manche winken dabei.
    „Gott sei mit euch“, entfährt es einem, als wir schon fast durch die Tür sind.
    Eine schöne Geste und ein Wink, stolz zu sein auf das, was wir bisher geleistet haben. 37 Tage, fast fünfeinhalb Wochen, sind vergangen, und wir haben schon beinahe vergessen, dass wir etwas Besonderes tun, etwas, was bei Gott nicht jeder macht. Lange ist es her, dass ich zu Hause mit bangem Herzen aus der Tür geschritten bin. Nun habe ich nach so vielen Tagen das Wandern mit all seinen Facetten komplett verinnerlicht. Es wird wohl dauern, mich wieder einzugewöhnen.
    Wir laufen auf einer Kreisstraße Richtung Osten – nach Buchloe. Es ist wärmer geworden, und der Regen hat aufgehört. Martin kramt wieder mal

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