Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
zwei davon weg – mehr gab es nicht zu sehen. Gute Nacht!
V OM W ESEN DES W ANDERNS
DONNERSTAG, 5. JUNI
SCHWABMÜNCHEN – BUCHLOE
(KURZ VOR LANDSBERG AM LECH), 32 KM
Schon früh, vor der Zeit, werde ich vom Verkehrslärm geweckt. Mein Fenster geht zur Hauptstraße hinaus, und es hat den Anschein, als wenn mein Bett direkt neben der Straße stünde. Ich schließe das Fenster, stopfe mir Ohropax in die Ohren und versuche weiterzuschlafen, wälze mich hin und her, finde aber keine Ruhe mehr. Missmutig stehe ich schließlich auf und bereite mich auf den Tag vor. Diese Hotels in den Städten sind oft eine Zumutung. Man findet einfach nicht die nötige Ruhe und bezahlt dafür viel Geld. Aber egal, the show must go on.
Wir wandern unter einem bedeckten, kühlen Himmel auf jenem Weg, der schon gestern mit seiner Gesichtslosigkeit genervt hat. Obendrein hat es angefangen zu nieseln, und der diesige Schleier verwandelt Feld und Flur in ein graues Einerlei. Mich fröstelt.
Es ist bereits der dritte Tag auf dieser monotonen Übergangsstrecke zwischen dem Donauried und dem Allgäu. Sicher, solche Abschnitte lassen sich nicht vermeiden, wenn man quer durch ein Land läuft. Aber so schlimm und so lang wie dieser waren sie bislang nicht. Das schlechte Wetter spielt natürlich auch ein Rolle, und außerdem stecken uns über fünf Wochen Fußmarsch in den Knochen – mehr als 1.000 Kilometer.
Wir rasten unter einer Spannbetonbrücke. Ein elender Rastplatz, aber er ist wenigstens trocken. Der Fluss riecht hier nicht gut und auch nicht die Hundescheiße an dem schräg zum Pfeiler aufsteigenden, gepflasterten Stützwall. Ich hasse Brückenunterführungen. Sie sind immer irgendwie dreckig und stinken meist nach Pisse. Ein trostloser Ort, den selbst die Pflanzen meiden.
Da sitzen wir nun an dem letzten aller Plätze, den man sich vorstellen kann, beißen in einen Apfel und schweigen.
Tja, die Stimmung ist nicht gut, kann man wohl auch nicht erwarten.
Dennoch, das Wandern bleibt aus der Perspektive der Gesamtschau etwas Besonderes, auch wenn man es zwischenzeitlich vergisst: die Stille, der Reichtum an Eindrücken, die vom Alltag zu Hause sich gänzlich unterscheidende Lebensart, die Einfachheit des Seins, das Gespanntsein auf das, was hinter der nächsten Ecke ist oder wo man am Abend aufschlägt, die enge Zweisamkeit mit dem Partner, die grenzenlose Freiheit, die einhergeht mit einer Unbekümmertheit, wie man sie, wenn man älter wird, immer seltener erlebt.
Der Weg bestimmt in ungewohnter Intensität die Gefühle und leitet sie immer wieder in dichter Folge in ganz unerwartete Bahnen. Auch die stillen Gedanken während des Laufens, mit denen man sich ablenkt, so wie jetzt, wenn die Landschaft nichts hergibt, oder die einfach auftauchen wie Sternschnuppen und ebenso schnell wieder vergehen und keinen Raum für Grübeleien lassen, sind besonders und entschlacken die Seele.
Das Wesen des Wanderns liegt in der Bewegung, in dem Fortkommen von einem Ort zum anderen. Sitzt man am Schreibtisch und grübelt, den Blick nach innen gewandt, dann sitzt man dort noch immer, wenn man wieder in den Alltag eintaucht, und man blickt wie vorher auf das leere Blatt Papier, auf dem man sich schwer tut, etwas niederzuschreiben. Der Blick fällt in dieselbe Umgebung, auf dieselben Gegenstände, und man ist keinen Schritt weiter, nicht mit den Gedanken und nicht räumlich.
Dann muss man raus, sofern man kann, um sich frei zu machen. Man braucht einen Tapetenwechsel.
Es spielt auch keine Rolle, ob man im Zug oder Auto sitzt. Die unmittelbare Umgebung, die Nahperspektive bleibt immer dieselbe, man ist von einer Hülle umgeben. Beim Wandern ist das ganz anders. Man befindet sich stets an einem anderen Platz und unter freiem Himmel, mit der größtmöglichen Freiheit zu schauen, und die Gedanken vermischen sich immer wieder mit den neuen Eindrücken, werden von diesen überlagert, bestimmt oder verdrängt, je nachdem, wie die Umgebung gestaltet ist. Nur manchmal, wenn die Landschaft überhaupt nichts hergibt, versinkt man eine Weile in sich.
Diese Kontinuität von Bewegung und Gedanken, von allmählichem Wechsel der Perspektiven und den damit verbundenen Eindrücken schaffen ein dichtes, emotionales Gewebe, das auch den letzten Winkel deiner Seele und deines Gemütes erreicht und schon beinahe erloschene Facetten deiner Persönlichkeit wieder aufleuchten lässt. Dir gelingt eine Perspektive auf dein Leben, wie sie dir im Alltag verschlossen bleibt,
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