Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Einsam ist es allemal: kein Menschen außer uns, keine Gasthäuser, keine Zivilisationsgeräusche.
Bis auf die Frühstückspausen halten wir uns nun seit zweieinhalb Tagen ausschließlich in der Natur auf, sind mit uns und unserem Weg beschäftigt. Die Welt da draußen hat unser Interesse verloren, sie ist so fern. Eine merkwürdige Verschiebung von Zeit und Raum hat stattgefunden, ganz allmählich und unbemerkt. Mir ist, als wäre ich schon seit Monaten unterwegs, und das Ende der Tour liege hinter den Sieben Bergen – so sehr hat sich die Zeit gedehnt, obwohl jeder einzelne Tag recht schnell vergeht. Auch die Wahrnehmung des Raumes um uns herum hat sich verändert: Er scheint geschrumpft. Durch den ständigen Aufenthalt im Freien haben wir eine andere Perspektive. Die Natur ist uns näher, wir bewegen uns in ihr wie in einer Wohnung, die uns vertraut ist.
So hat Einsteins Relativität von Zeit und Raum eine überraschende Entsprechung in unseren Köpfen gefunden, verursacht durch unseren einsamen Marsch durch Feld, Wald und Flur. Es ist ein eigenes, kleines Universum entstanden, in dem wir uns wie in einer Blase durch das Land bewegen.
Nach über vier Stunden gelangen wir überraschend auf eine Lichtung – eine herrliche Wiese, auf der eine stolze, mächtige Linde mit weit ausladenden Zweigen Schatten spendet. Durch das junge, lindgrüne Blätterdach dringen gedämpft die Strahlen der Sonne, und ein milder Wind weht über die Wiese her. Erschöpft legen wir uns unter dem Baum ab, Martin an den Stamm gelehnt und ich etwas abseits davon. Ziehe die Stiefel aus, bette mein müdes Haupt auf den Rucksack und strecke alle Viere von mir.
Oh, was für ein schöner Platz, ein Tempel der Ruhe und eine Augenweide obendrein. Mir fehlt nichts, ich bin wunschlos glücklich und bitte Martin um ein Lied. Sein schöner Tenor schwingt sich hinauf in die Wipfel und breitet sich über die Wiese aus. Ich glaub’, sogar die Vögel halte inne in ihrem Gesang und lauschen:
Kein schöner Land in dieser Zeit
Als hier das unsre weit und breit,
Wo wir uns finden wohl unter Linden
Zur Abendzeit.
Das mit der Linde und dem Ort passt, zur Abendzeit aber wollen wir unbedingt nach zwei Nächten im Freien ein Quartier und eine warme Mahlzeit haben.
Fröhlich stimme ich mit ein, und ungeniert und voller Inbrunst folgt Lied auf Lied. Zum Schluss schmettere ich noch mit meinem Bassbariton „Im tiefen Keller sitz’ ich hier bei einem Glase Bier“, stehe dazu auf und treffe sogar sauber das tiefe C. Martin ist beeindruckt. Das alles ist unglaublich entspannend und losgelöst von jedem Zwang. Wir sind einfach nur, genügen uns, und die Natur ist unser stummer Zeuge.
Gegen halb vier machen wir uns wieder auf den Weg. Bis nach Mihla an der Werra, wo wir nächtigen wollen, sind es noch circa drei Stunden. Der endlose Wald nimmt uns wieder auf, und wir trotten, ohne einer Menschenseele zu begegnen, weiter und weiter – versunken in des Waldes Tiefe und den Gefilden unseres kleinen Universums:
Und wieder such’ ich dich, du dunkler Hort,
Und deines Wipfelmeers gewaltig Rauschen –
Jetzt rede du! Ich lasse dir das Wort!
Verstummt ist Klag’ und Jubel. Ich will lauschen.
(Conrad Ferdinand Meyer, 1825-1898)
Die Zeit vergeht und der Abend naht. Inzwischen haben wir den Hauptweg verlassen und gehen jetzt auf einem verschlungenen Pfad einen Hang hinunter. Dann erreichen wir endlich den Ortsrand von Mihla, und mir entfährt es spontan:
„Sieh da – Mihla, du Flecken am Hang.
Empfange uns freundlich,
Sonst komm’n wir nie wieda!“
„Oh, Wolfgang, das wollen wir mal üben – einen halben Punkt gebe ich dir.“
„Tja Martin“, entgegne ich, „wie die Ferse, so die Reime.“
„Das kann man wohl sagen“, antwortet er, hat mich aber nicht verstanden.
„Ferse mit F!“, rufe ich ihm zu.
„Aber ja“, tönt Martin zurück.
Kapiert hat er das Wortspiel nicht. Das sehe ich an seinem Blick und belasse es dabei.
Ein verwahrlostes Gebäude mitten im Ort fällt mir auf. An seiner Fassade hängt ein uraltes Schild mit der Aufschrift „Filmtheater“. Die Buchstaben sind verblasst und unvollständig. Von den Fensterrahmen im ersten Stock blättert die Farbe ab. Schmutzige, graue Gardinen verstellen den Blick nach innen. Das Parterre ist mit Zement verputzt, durchzogen von langen, rostigen Streifen unter den Fensterbänken, dort, wo sich die vom Regen ausgewaschene Farbe in den Putz gefressen hat. Die Fensterscheiben sind blind und
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