Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
gibt es so gut wie gar nicht und Fußwege nur dann, wenn ein Fahrradweg angelegt worden ist. Wir bewegen uns am äußersten Rand einer Straße den Hügel hinab und stoßen irgendwann auf eine vierspurige Fahrstrecke, die in die Stadt führt. Auf der gegenüberliegenden Seite gibt es einen Bürgersteig, aber nirgendwo ist eine Ampel zu finden. Der Verkehr ist beträchtlich, aber wir müssen da rüber. Im Laufschritt, mit hüpfendem Rucksack, eilen wir über die Fahrbahn, begleitet vom wilden Gehupe eines vorbeirasenden Idioten. Puh – geschafft! Mit Rucksack zu laufen, ist echt eine Kunst. Das muss man üben, weil das Auf und Ab auf dem Rücken den Laufstil erheblich beeinflusst.
Jetzt an der stinkenden und krachenden Straße das Nadelöhr, den Tunnel unter der Autobahn, passieren und dann dem Wahnsinn in eine Seitenstraße ausweichen. Dieser Lärm ist brutal. Ich kann mich gar nicht erinnern, jemals den Gegensatz von Landfrieden und Stadtlärm als so krass empfunden zu haben.
Über drei Kilometer zieht sich der Marsch ins Zentrum hin. An manchen Ecken hat man den Eindruck, in einem grauen, schmucklosen Stadtquartier der untergegangenen DDR zu laufen. Dann wiederum sind die Fassaden der mehrstöckigen Wohnanlagen frisch getüncht, die Fensterrahmen bunt angemalt, Bürgersteige und Straßen renoviert. Nur die Kübel mit den vertrockneten Pflanzen, die wohl mal ein wenig Grün in das Quartier bringen sollten, sprechen eine andere Sprache: zerbeulte Bierdosen, leere Schnapsflaschen, zerknüllte Zigarettenschachteln und in Massen achtlos weggeworfene Kippenreste.
Jemand kommt uns entgegen. Einer von denen, die abends um die Kübel stehen. Ein Typ mit Vollglatze in Badeshorts und Badelatschen, mit einem ärmellosen, gerippten, weißen Unterhemd über der monströsen, bereits über den Hosenrand lappenden Bierwampe. Seine Augäpfel sind gerötet, im Mund hängt eine Kippe. Ein Kampfhund zieht und zerrt an ihm. Mit seinen wachsbleichen, sprickligen Beinen stemmt sich der Typ dagegen. Wird mehr gezogen, als dass er geht, kann kaum die Leine halten. Er würdigt uns keines Blickes, und wir sind froh, als er vorüber ist.
Endlich erreichen wir den Bahnhof, geben unsere Rucksäcke auf, machen uns frisch und schlendern durch das Nikolaitor in die Innenstadt. Wir haben Zeit. Die Fußgängerzone ist voller Menschen, die in die Geschäfte, Eisdielen und Restaurants drängen. Wir kaufen Pflaster und Fußcreme, genehmigen uns einen Eisbecher und verklappen ein Weißbier im Schatten eines Sonnenschirms, beobachten entspannt das Treiben. So viel Freizeit hatten wir lange nicht mehr.
Ruhla, unser Nachtquartier, liegt abseits unserer Route. Ein Bus soll uns dorthin bringen. Wir wollten das ja eigentlich nicht mehr, aber wie heißt es doch so schön: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ Obwohl nur wenige Kilometer entfernt, dauert die Fahrt endlos, weil vorher jedes Dorf angesteuert wird. Ich habe den Fahrer gebeten, uns ein Zeichen zu geben, wenn wir aussteigen sollen. Er hat mich nach unserem Ziel gefragt und irgendwie gebrummelt, dass er die Pension kenne. Besonders gesprächig ist er nicht, und so lass’ ich ihn in Ruhe. In Ruhla hält der Bus mehrere Male, und wir erreichen bereits den Ortsausgang des steil ansteigenden Straßendorfes. Ich gehe nach vorn, doch er winkt ab, biegt in eine Seitenstraße ein und fährt weiter hinauf in ein ruhiges Wohngebiet. Vor einem zweistöckigen, an einer Wiese gelegenen Haus hält er an und öffnet die Türen.
Er hat uns tatsächlich bis vor die Haustür gebracht, obwohl hier keine Bushaltestelle ist. Dankbar verabschieden wir uns. Das gibt es also auch in Deutschland, ein Serviceleistung des öffentlichen Dienstes, für die es keine Vorschrift gibt, eine menschliche Geste – Hut ab und eine tiefe Verbeugung.
Es ist inzwischen halb sieben, und wir werden im Garten erwartet. Die Gastgeber und ein weiterer Herr sitzen um einen runden Tisch in der späten Sonne und begrüßen uns herzlich. Wir bekommen ein eiskaltes Bier angeboten und beschnuppern uns. Die Dame des Hauses, eine Mittfünfzigerin in einem langen, bunten, wehenden Kleid, schaut freundlich und klug, sagt aber wenig. Ihr Mann ist älter, vielleicht Ende sechzig, mit einem feinen und überaus sensiblen Gesicht und freundlichen, wachen Augen. Zunächst wird über das alte DDR-Motorrad palavert, das im Garten dicht nebenbei steht. Doch bald sind wir bei der großen Leidenschaft des Hausherren angelangt: Musik,
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