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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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weicht nicht von der Stelle. Misstrauisch beäugt sie meine Aktion, sagt aber nichts mehr, und als der Apparat dann funktioniert, behauptet sie tatsächlich, sie hätte die Sicherungen angemacht – wann und wie auch immer.
    Meine Güte, was bratzt die nur für einen Müll zusammen. Wenn man schon keine Ahnung hat, dann soll man auch die Schnauze halten. Nun zeige ich ihr auch noch im Zimmer zehn, dass die Glotze tatsächlich kaputt ist, wünsche ihr einen guten Abend und bedanke mich süffisant für ihre Freundlichkeit. Schweigend entfernt sie sich, steigt schwerfällig hinunter in den Gastraum und trägt ihre schlechte Laune mit sich fort.
    Nun ist Ruhe. Ich sinke ins Bett, und in dem Moment fällt das erste Tor für Manchester United.

A M E NDE WARTET
DAS P ARADIES
    DONNERSTAG, 22. MAI
G RÄFENBER G – SIE G ERSD O RF (SÜDRAND FRÄNKIS C HE S C HWEIZ), 26 KM
    Als ich die Augen aufschlage, scheint mir die Sonne direkt ins Gesicht, der Himmel ist stahlblau. Ich habe gut geschlafen, auch während des Fußballspiels. Wäre Werder Bremen eine der Mannschaften gewesen, hätte ich kein Auge zugetan.
    Es ist der 23. Tag unserer Tour, und nach unserer Planung haben wir heute Bergfest. Noch einmal genau so viele Tage liegen vor uns – gefühlte zwei Jahre, so kommt es mir jedenfalls vor.
    Die Alte von gestern Abend schiebt immer noch Dienst, tut aber so, als wenn nichts passiert sei. Mir ist das nur recht, denn ich will in Ruhe frühstücken, zettele auch keine Diskussion mit Martin über gestern Abend an. Führt sowieso zu nichts. Ein dicker, fetter Minuspunkt aber bleibt, da bin ich nachtragend. Man kann ja auch nicht alles durchgehen lassen.
    Auf dem Marktplatz geht es geschäftig zu, obwohl heute Fronleichnam ist. Ein riesiger Flohmarkt hat ihn in ein Warenhaus verwandelt, und das schöne Wetter lockt bereits am frühen Morgen Hunderte von Leuten an. Der Ort ist überwiegend evangelisch, wie viele fränkische Gemeinden, dennoch profitieren sie von den Katholiken: In Bayern ist heute Feiertag. Doch eine Prozession gibt es hier nicht. Die erwartet uns im nächsten Ort mit mehrheitlich katholischer Bevölkerung, und der ist nur drei Kilometer entfernt.
    Schon bald verlassen wir das Städtchen, das unter dem weiß-blauen bayerischen Himmel einen besseren Eindruck macht als gestern bei unserer Ankunft. Dennoch kann es seinen provinziellen Charakter unter dem Feiertagsgewand nicht verbergen.
    Aus den Augen, aus dem Sinn. So geht es uns jeden Tag. Die Eindrücke rollen heran wie Wellen, schaukeln sich auf, türmen sich übereinander, bis sie in sich zusammenbrechen, um einem neuen Wellenberg Platz zu machen. Wesentliche Dinge bleiben gespeichert, der Rest geht verloren. Es ist, als wenn man von einem Film in den nächsten zappt.
    Aus dem Stand heraus bin ich nicht in der Lage zu realisieren, was vor drei oder fünf Tagen war. Natürlich sind mir viele Landschaftseindrücke und Erlebnisse präsent, nur kann ich sie nicht mehr mit der Zeit, mit dem Kalender synchronisieren. Dazu muss man wahrscheinlich zu allem einen gebührenden Abstand haben.
    Es ist wunderbar, wieder bei gutem Wetter zu wandern, über eine sanfte, lichte Anhöhe in ein von sonnigen Wiesen und Wäldern durchzogenes Tal. Mir ist, als sei Gräfenberg nur ein Traum gewesen, in der Erinnerung bereits verblasst. Es hat keine Bedeutung. Ich war und bin nur Zuschauer und nicht Beteiligter, ein Wanderer zwischen den Welten.
    Von Ferne hören wir Glockengeläut und Blasmusik. In Weißenohe begeht man den Fronleichnamstag. Der Ort ist geschmückt. Aus vielen Fenstern hängen Wimpel und Fahnen, und über die Straßen hat man Girlanden gespannt. Die Menschen sind herausgeputzt und streben der Musik nach, die irgendwo in einer der Gassen die Prozession anführt. In der Klosterkirche hängt noch der schwere Geruch von Weihrauch, vermischt mit den Ausdünstungen und dem Parfum hunderter Menschen, die hier den Gottesdienst gefeiert haben. Nun ist sie leer, und was bleibt, ist dieses süßlich-modrige katholische Aroma, das einen ständig an Sünde und Tod, an Vergänglichkeit und Zerfall, aber auch an Habsucht und Gier erinnert. Wie eine Patina hat es den gesamten Raum überzogen und haftet ihm an wie Schimmel. Es hat etwas Abgründiges und Unheiliges an sich.
    Wir kehren zurück in den warmen, hellen Frühlingstag. Beim Verlassen der Stadt erblicken wir dann doch noch die Prozession: den Popen unter dem Baldachin, Messdiener in roten Gewändern mit weißen Überkleidern,

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