Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
Sonnenflecken, das sanfte Sich-Wiegen der Baumkronen und der Gesang der Vögel schaffen jenen Frieden, der dort unten am Kreuz keine Bleibe fand.
Wir erreichen Sindlbach, einen Ort in der Oberpfalz. Die Einkaufsläden haben bereits geschlossen, der Gasthof noch nicht geöffnet. Wieder werden wir um unsere Mittagsmahlzeit betrogen und müssen wohl auf die Notnahrung zurückgreifen. Meinen Gürtel habe ich bereits um ein Loch enger geschnallt, mal seh’n, wie viel ich am Ende abgenommen habe.
An einem Zaun lehnt ein Mann und beobachtet unser unschlüssiges Herumstehen. Er sieht so aus, als hätte er Lust zu reden. Wir grüßen und treten näher.
„Wo wollt ihr denn drauf los? Pilgert ihr nach Compostela?“
Verblüfft schauen wir uns an.
„Wie kommen Sie denn auf diese Idee. Nee – wir wandern durch Deutschland. Sind kurz hinter Hamburg losgelaufen und wollen jetzt eigentlich irgendwo was essen.“
„Und ich dachte, ihr seid Pilger, weil der Jakobsweg hier durchgeht. Um diese Zeit ist alles dicht.“
„Sie kommen wohl nicht von hier. Ihr Akzent klingt eher norddeutsch“, frage ich ihn.
„Nein, ich komme aus Berlin. Bin vor 35 Jahren hierher gezogen, weil ich in Nürnberg einen Job fand. Will schon lange wieder zurück, aber es ist schwierig, in dieser einsamen Gegend sein Haus zu verkaufen.“
„Nach so langer Zeit wieder weg? Sie müssen doch inzwischen hier unten angekommen sein!“
„Tja, Berlin ist eben meine Heimat. Dort sind meine Wurzeln. Bin und bleibe Preuße. Hier sind Sie in der Oberpfalz. Die ist bayerischer als alles, was Sie bisher kennengelernt haben, und außerdem stockkatholisch.“
„Wir waren doch gerade noch in Altdorf, und das ist evangelisch! Hat man uns jedenfalls erzählt.“
„Da wart ihr noch in Franken. Da ticken die Uhren anders. Bei Gnadenberg verläuft die Grenze. Ab dort regieren die Katholiken. Aber manchmal weiß man auch nicht, woran man ist. Eben noch ein überwiegend evangelischer Ort, und ein Dorf weiter ist es genau umgekehrt.“
Eine Weile plaudern wir noch und verlassen dann unseren preußischen Bayern und den katholischen Flecken Sindlbach.
Auf der Alb bietet sich uns ein herrlicher Blick in das südliche, von bewaldeten Hügelketten durchzogene Nürnberger Becken. Wir sehen, wie sich der Albrand als mächtiges Band nach Süden streckt und dann, nach vielleicht einem Tagesmarsch, nach Westen abknickt und sich im Dunst verliert. Wir werden diesem Band folgen, es ist unser Weg.
Bildstöcke tauchen auf, und an manchen Stellen schaut der Heiland von hohen Kreuzen weit ins Land hinein.
Wir bleiben auf der Hochfläche, dicht an der bewaldeten Abbruchkante. Links von uns steigt die Alb leicht an und verschwindet mit ihren endlosen Feldern hinterm Horizont. Über der Flur jubilieren die Lerchen, und aus einem nahe gelegenen Waldstreifen ruft ein Kuckuck. Es ist windstill, die Luft weich und warm. Ein wunderschöner Himmel liegt über allem – es ist Sommer, und es herrscht tiefer Frieden. Leichte Müdigkeit überkommt mich; dennoch sind meine Sinne aufmerksam, reagieren sensibel auf diese wunderbare, fast heilige Stimmung. Jeder Duft, der mich streift, jeder noch so leichte Hauch, der mich berührt, und jeder Laut, der mich erreicht, will mir etwas sagen. Und ich verstehe ihre Sprache und den Sinn ihrer Worte – nicht, wie ich die Rede eines Menschen verstehe, sondern so, wie Musik oder ein Gedicht ein jähes, flüchtiges Begreifen ermöglichen, das weit über alle Vernunft hinausgeht. Ich fühle mich eins mit dem, was ich sehe, höre und fühle – weiß nicht, ob ich gehe, schwebe oder träume, bin zugleich hier und anderswo. Es ist, als ob mich Gott in diesem Moment mit seinem Zeigefinger berührt und mir bedeutet, warum alles so ist, wie es ist und dass es gut so ist. Ich bin in mir und gleichzeitig in allem, was mich umgibt. Es gibt nichts, was nicht stimmt, und nichts, was mich stört.
Ein eigenartiger, übersinnlicher Zustand, wie ein Rausch. Seltsam nüchtern und mit tiefer Ruhe habe ich dieses eigenartige Überschreiten der Rationalität und die Sekunden danach durchlebt und gespürt, wie mich das Glück erreicht.
Ich beeile mich, Martin einzuholen. Das Erlebnis klingt nach und beschert mir eine unglaubliche Innigkeit und Ausgeglichenheit, die das Wandern für eine Zeit lang zu einer Glücksreise werden lassen. Ich behalte alles für mich, weil es so besonders war und ich es nicht zerreden will.
Doch das Dahinschweben und der Nachmittag
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