Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
komplett ausgetauscht. Bindungen entstanden durch gemeinsames Lernen, das Spielen in Bands, das Leben in Wohngemeinschaften oder in Phasen des Single-Daseins, wenn man zusammen um die Häuser zog. Die wechselnden Lebensumstände haben neue, zuweilen enge Kontakte entstehen lassen, und alte blieben auf der Strecke. Eine Bekanntschaft aber wird erst dann zur Freundschaft, wenn das Interesse aneinander über den einstmals gemeinsamen Lebensabschnitt hinaus bestehen bleibt.
20 Jahre habe ich in Göttingen gelebt, bis ich mit 40 aus beruflichen Gründen mit meiner Familie die Stadt verlassen musste. Zwei, drei Kontakte haben die Trennung überlebt, doch manchmal sehen wir uns mehrere Jahre nicht. Die Gefühle füreinander werden gespeist aus den Erinnerungen vergangener Zeiten. Das gegenwärtige Leben teilt man nicht, und eigentlich kennt man sich auch nicht mehr so richtig. Merkwürdigerweise sind diese Distanzfreundschaften oftmals die beständigsten, vielleicht auch, weil man das gute Gefühl füreinander in seinem Herzen konserviert hat und es keine Anlässe gibt, dass es erodiert.
Jede Lebensphase hat wohl ihre eigene Struktur und eigene Gesetze. Sie ist wie ein kleines Universum, das vergeht, wenn das Leben sich ändert oder man einfach nur älter wird. Auch die Menschen, mit denen man seine Zeit verbringt, sind ein Teil dieses Kosmos, und wenn wir ihn verlassen, so verlassen wir meist auch sie. Dennoch, wenn man Glück hat, bleiben am Ende einige wenige Kontakte aus den längst gelebten Jahren als alte Bande bestehen, hin und wieder trifft man sich, und zwischenzeitlich gehen unsere Gedanken zu diesen Menschen und man fragt sich, was sie wohl so treiben. Wenn einen die Sehnsucht nach ihnen packt, dann weiß man, dass es Freunde sind, an die man denkt.
„Guten Morgen, Martin!“
„Guten Morgen, mein lieber Wolfgang!“, tönt es zurück.
„Na, dann wollen wir mal!“, fahre ich fort.
„Jaaa, dann wollen wir mal!“, echot mein lieber Wanderkumpel und kramt unbeirrt, ohne sich umzudrehen, weiter in seiner Bauchtasche. Mehr Gespräch ist wohl nicht drin, und ich begebe mich ins Bad.
Nach dem Frühstück lassen wir unsere Rucksäcke im Gasthof, um im wahrsten Sinne des Wortes unbeschwert Altdorf für ein Stündchen zu erkunden. Über dem Städtchen liegt ein tiefblauer Himmel, vor dem sich die Konturen der Giebel und Türme scharf abzeichnen, mit einer Plastizität und Farbigkeit, die jedes Detail erkennen lässt. Die frühsommerliche Atmosphäre schafft eine mediterrane Stimmung, in der es leicht und freundlich zugeht und die auch uns vereinnahmt. Wir schlendern gut gelaunt über den Marktplatz, durchqueren ein altes, massiges Stadttor und stehen schließlich vor einem imposanten Gebäude. Es ist die alte Universität Altdorf, die vor beinahe 400 Jahren gegründet wurde und bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts Bestand hatte. Schon im 17. Jahrhundert gab es hier eine Sternwarte, eine Anatomie und ein chemisches Laboratorium. Kein Geringerer als der berühmte Philosoph und Begründer der Differential- und Integralrechnung, Gottfried Wilhelm Leibniz, hat hier studiert. Seit knapp hundert Jahren ist dieses ehrwürdige Gebäude nun eine Einrichtung für Körperbehinderte und eines der Wichernhäuser in Deutschland, benannt nach dem Theologen und Pädagogen Johann Hinrich Wichern.
Die Zeit drängt, und wir gehen zurück zu unserem Hotel, schnappen uns die Rucksäcke und verlassen wenig später die Stadt. Prächtiges Wetter begleitet uns auf unserem Weg durch die Feldmark Richtung Osten. Die Lust am Wandern ist zurückgekehrt, das Gehen fällt uns leicht.
Die Gegend wandelt sich. Lichte Kiefernwälder und sandiger Boden häufen sich und dominieren schließlich das Landschaftsbild auf der sonnigen, warmen Südseite der Alb.
Hier ist die Natur wie in meiner Kindheit, in dem kleinen Ort am Nordrand der Lüneburger Heide. Wie oft sind wir durch die Wälder gestreift, haben uns im Sommer in die warmen Sandkuhlen gehockt und mit den Kieferzapfen versucht, nahe gelegene Baumstämme zu treffen. Vor unserem Haus wuchs eine dichte Kiefernschonung, in der wir nur selten eintauchten, weil uns das Dickicht unheimlich war. Einmal haben wir es ihr aber richtig gegeben.
Es war im heißen Sommer 1959. Mein Vater hatte mit meinem gut ein Jahr älteren Bruder und mir auf einem sandigen Platz vertrocknetes Laub, Zweige und dergleichen zusammengetragen und dort am Rande einer Wiese aufgehäuft, die nach vielleicht 40 Metern auf die
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