Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
der britische Journalist Robert Blatchford die »Alkalistadt« St. Helens noch 1899 so: »Der Himmel mit seinem schmierigen Rauch ist wie ein Dach … Charakteristisch für die Stadt sind die Schornsteine, Öfen, Dampflokomotiven, Rauchwolken und die Kohleförderung. Sie produziert Pillen, Glas, Kohle, Chemikalien, Krüppel, Millionäre und arme Leute.«
Das Verfahren war auch technisch betrüblich ineffektiv. 1863 brauchte man sechseinhalb Kilo Ausgangsmaterial, um ein Kilo Produkt zu erzeugen, dabei sind Sodafolgeprodukte wie Seife und Bleichmittel schon eingerechnet. Dennoch wurden mit der Alkaliindustrie jährlich über eine Million Pfund verdient, davon schätzungsweise 300000 Pfund Lohnkosten. Die erwähnten Rauchwolken weisen auf die Heizung der Öfen dieser Industrie: Ohne Kohle wäre sie so wenig möglich gewesen wie ohne Schwefelsäure.
Die Umweltschäden und die geringe Materialeffektivität ließen Chemiker schon im frühen 19. Jahrhundert nach einer Alternative zu Leblanc suchen. 1861 fand der belgische Chemiker Ernest Solvay eine brauchbare technische Lösung, die sich mit wenigen chemischen Gleichungen beschreiben lässt. Man braucht eine gesättigte Kochsalzlösung (gesättigt heißt, da ist so viel Salz drin aufgelöst, wie überhaupt möglich) und leitet nacheinander erst das Gas Ammoniak und dann Kohlendioxid ein. Es bildet sich Ammoniumhydrogenkarbonat:
Das reagiert mit dem Kochsalz gleich weiter:
Ammoniumhydrogenkarbonat + Natriumchlorid ergibt Natriumhydrogenkarbonat + Ammoniumchlorid.
Moment: Wo kriegt man denn das Ammoniak und das Kohlendioxid her? Gemach, zunächst zum Natriumhydrogenkarbonat NaHCO 3 . Das dürfte auch in vielen Haushalten vorkommen, es ist der Hauptbestandteil von Backpulver. Warum? Weil es sich dankenswerterweise beim Erhitzen zersetzt:
2 NaHCO 3 zerfallen in Na 2 CO 3 + H 2 O + CO 2 , also Soda, Wasser und Kohlendioxid. Letzteres lässt beim Backen den Kuchen aufgehen; beim Solvay-Verfahren wird es gleich vorne wieder in den Prozess eingeleitet, genau die Hälfte der benötigten Menge, die andere Hälfte Kohlendioxid erhält man auf bewährte Weise durch das Brennen von Kalk:
CaCO 3 zerfällt in CaO (Calziumoxid) und CO 2 .
Die Frage nach dem Kohlendioxid ist geklärt: Es stammt aus dem Kalkstein. Das dabei entstehende Calziumoxid kann man dazu verwenden, aus dem weiter oben entstandenen Ammoniumchlorid das Ammoniak wiederzugewinnen:
Calziumoxid + Ammoniumchlorid = Ammoniak + Calziumchlorid und Wasser.
Das heißt: Ammoniak wird bei dem Prozess überhaupt nicht verbraucht, sondern immer im Kreis geführt! Was braucht man denn dann als Ausgangsstoffe? Zwei: Kochsalz und Kalk, die ergeben Soda und Calziumchlorid. Letzteres ist auch das einzige echte Abfallprodukt. Ziemlich raffiniert, Solvay hat auch Jahre gebraucht, den Prozess zur Reife zu entwickeln; die Fabrik, die er zusammen mit seinem Bruder 1863 gründete, stand die erste Zeit immer am Rand des Konkurses.
Das Solvay-Verfahren, auch Ammoniak-Soda-Prozess genannt, lässt sich in fünf chemischen Gleichungen zusammenfassen, die zu Zeiten, als es in der Schule auf reines Auswendiglernen ankam, ein probates Mittel darstellten, jemanden »hinauszuprüfen«. Eingedenk der Leiden so vieler Chemiegeschädigter und weil bald Weihnachten ist:
Nein, das Solvay-Verfahren brauchen Sie sich nicht zu merken, es wird nicht abgefragt!
Solvay schaut auf dem Bild genauso aus wie all die anderen ernsten und bedeutenden Bartträger vom Ende des 19. Jahrhunderts. Wenn Leblanc der Soda-Pechvogel war, dann könnte man Solvay den Soda-Glückspilz nennen: Die Firma Solvay existiert noch heute, ein Riesenkonzern mit 28000 Mitarbeitern. Auch aus einem anderen Grund verdient es Solvay, dass unsere Blicke wohlgefällig auf seinem Porträt ruhen: Er war ein »Industriephilanthrop«, das heißt, er baute Schulen, Krankenhäuser, Arbeiterwohnungen und so weiter. Und er führte den Achtstundentag(!) ein – zu einer Zeit, als die meisten Kapitalisten noch Stein und Bein schworen, der ganze Unternehmensprofit entstehe überhaupt erst in der zehnten Stunde … Außerdem hat Solvay mehrere Institute der Brüsseler Universität gegründet.
Im Übrigen hat er die so genannten Solvay-Konferenzen finanziert. Die erste fand 1911 statt, die vierundzwanzigste rund hundert Jahre später, 2008. Auf diesen Versammlungen diskutierte und diskutiert die Creme de la creme der Physik die jeweils neuesten Theorien und Probleme; die berühmteste war wohl
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