Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
danach Belgisch-Kongo. 1910 wurde die Zwangsarbeit abgeschafft, das Ausbeutungssystem blieb aber erhalten. Von 1880 bis 1920 hatte die ursprüngliche Bevölkerungszahl von zwanzig auf zehn Millionen abgenommen – das könnte man doch mit Fug und Recht »Vernichtung durch Arbeit« nennen, ein Begriff, der bisher der nationalsozialistischen Politik vorbehalten ist; tatsächlich besteht ja auch ein gewisser Unterschied: Die Nazis wollten die Juden vernichten, die Arbeit im KZ war ein Nebeneffekt, den Belgiern ging es um die Arbeit, die Vernichtung war der Kollateralschaden …
Interessant ist das weitere Schicksal der beiden Helden Morel und Casement. Bei Casement ist es einfach: Als irischer Patriot stellte er sich beim Osteraufstand 1916 auf die Seite der aufständischen Iren und besorgte beim britischen Kriegsgegner Deutschland Waffen und Munition. Die Aktion scheiterte, das deutsche Schiff wurde von der englischen Marine gestellt und gesprengt; Casement, zuvor von einem deutschen U-Boot an Land gesetzt, wurde aufgespürt, nach London gebracht und in einem Hochverratsprozess zum Tode verurteilt. Gnadengesuche von Arthur Conan Doyle (der selber eine Anklageschrift zu den »Kongogräueln« verfasst hatte) und Bernard Shaw blieben erfolglos, Casement wurde gehängt. Eine Rolle spielten auch von englischer Seite in Umlauf gebrachte gezielte Gerüchte über Casements angebliche (oder tatsächliche) Homosexualität, die ihn im damaligen gesellschaftlichen Klima unmöglich machten; jedenfalls viele potenzielle Unterstützer eines Gnadengesuchs von der Unterschrift abhielten. In Irland, wohin seine sterblichen Überreste 1965 überführt wurden, ist Roger Casement ein Nationalheld.
Kaum weniger tragisch verlief das Leben von Edmund Dene Morel. Der sah nämlich nicht ein, wieso England in den Ersten Weltkrieg eintreten sollte, da es nur durch Geheimverträge an Frankreich gebunden war und von Deutschland nicht angegriffen wurde. Er machte den Fehler, diese originelle Idee auch öffentlich zu vertreten, und wurde zu sechs Monaten Zwangsarbeit verurteilt, die seine Gesundheit für immer ruinierte. Die britische Öffentlichkeit sah das ebenso als gerechtfertigt an wie die treibende Kraft hinter der Anklage, ein gewisser Winston Churchill, der – sagen wir es einmal so: gegen alles Deutsche eine lebenslang währende Allergie entwickelt hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg war Morel ein führender Politiker der Labour-Party, er starb aber schon 1924 und geriet bald in Vergessenheit. Es sollte fast neunzig Jahre dauern, bis die interessante Überlegung von der Neutralität Großbritanniens wieder aufgegriffen wurde, nämlich vom Historiker Neill Ferguson in seinem Bestseller: »Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert.« Sein Fazit: Ohne England und Amerika als Gegner hätte Deutschland den Krieg wahrscheinlich gewonnen – und das Vereinigte Königreich seine Kolonien behalten; wir sähen uns heute einer ganz anderen Welt gegenüber.
Die »Kongogräuel« sind in Vergessenheit geraten, ihre Aufarbeitung verläuft – nun, zögerlich. Die aktuelle Position vermittelt ein belgischer Offizieller in dem (ebenfalls belgischen) Dokumentarfilm »Weißer König, roter Kautschuk, schwarzer Tod« von Peter Bate: Man muss das alles aus der Zeit heraus verstehen und die anderen haben ja auch … Aha. Bestehen bleibt aber die Wertsteigerung der Aktien der betreffenden belgischen Firma um – halten Sie sich fest! – fünfundzwanzigtausend Prozent. Diese nach Europa transferierten Summen müssten doch noch irgendwo sein, oder?
Wie sind wir überhaupt auf das unerfreuliche Thema gekommen? Ach so, wegen des Gummis … Der nahm von 1880 bis 1914 einen gewaltigen Aufschwung. 1886 fuhren die ersten Autos, Dunlop erfand den luftgefüllten Reifen – gerade rechtzeitig, denn der ist für die Entwicklung des Individualverkehrs genauso wichtig wie der Explosionsmotor: Ein Auto ohne Gummireifen müsste mit Spurkranzrädern auf Schienen fahren – mit Schmalspurbahnanschluss an jedes Haus. Das wäre in Europa vermutlich sogar machbar gewesen, unsre Welt sähe nur anders aus. In den USA, wo das Auto mit der »Tin Lizzy« des Henry Ford 1908 seine Massenkarriere erlebte, war die Individualschiene wegen der riesigen Entfernungen keine Option; das Auto war auf den noch wenig befestigten Straßen einfach auf Luftfederung der Reifen angewiesen – schon mit den 20 km/h für das »T-Modell« war es mehr als doppelt so schnell wie eine
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