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Von den Sternen gekuesst

Von den Sternen gekuesst

Titel: Von den Sternen gekuesst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Plum
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sonst hätte ich schnell angerufen, um zu sagen, dass alles in Ordnung war. Obwohl ich wusste, dass es Zeit war aufzubrechen, konnte ich mich noch nicht von den Geschichten der Bilderwand losreißen.
    Mein Blick flog wieder hinauf zu den ältesten Abbildungen, diesmal zu einer aus der Römerzeit. Darauf schloss ich aufgrund der Toga-ähnlichen Gewänder. Mittig stand eine große, runde Wanne, in der eine Gestalt zusammengerollt lag wie ein Embryo. Sie war lebensgroß, hatte weder Haare noch Gesichtszüge und wirkte eher wie die noch sehr grobe Skulptur einer Frau, bevor die Details hineingearbeitet wurden.
    Um die Wanne standen mehrere Personen, ihren Gloriolen nach zu urteilen sowohl Bardia als auch guérisseurs , und jede war mit etwas anderem beschäftigt. Eine hatte sich in den Arm geschnitten und ließ das Blut in die Wanne laufen, eine weitere beugte sich über den Kopf der liegenden Gestalt, eine dritte schien eine Zauberformel zu sprechen und eine vierte stand daneben, eine Fackel und eine Vase in der Hand. Offenbar führten sie irgendein magisches Ritual durch, doch ich konnte mir nicht erklären, welchem Zweck es diente.
    Unter dem Bild stand etwas auf Latein und begeistert stellte ich fest, dass ich mir sogar ein paar Worte davon herleiten konnte. Argilla entsprach sicher dem französischen Wort argile , bedeutete also »Ton«. Außerdem schloss ich, dass pulpa »Fleisch« heißen musste, denn es war dem französischen Wort für Tintenfisch sehr ähnlich – einem Tier, das nur aus Fleisch bestand und keinen einzigen Knochen aufwies. Weil ich den Rest nicht übersetzen konnte, sah ich mich nach einer weiteren interessanten Szene um. Nur eine noch , dachte ich, weil mir immer klarer wurde, dass ich dringend zu Vincent und den anderen zurückkehren musste. Die wurden sicher schon wahnsinnig vor Sorge.
    Ein eher mittig gelegenes Bild erregte meine Aufmerksamkeit, vermutlich weil es am schönsten ausgearbeitet war. Einige guérisseurs waren ganz offensichtlich begabter als ihre Vorgänger oder Nachfolger. Bei den meisten Darstellungen stand ganz klar die Botschaft im Vordergrund, nicht die Kunstfertigkeit des Malers. Doch dieses hier hätte sehr gut von Raphael oder Michelangelo stammen können, der Künstler hatte jedenfalls größten Wert auf die prächtige Schönheit seiner Figuren gelegt.
    Darauf stand eine kleine Ansammlung Numa mit ihren blutroten Strahlenscheinen einer Gruppe Bardia mit goldroten Gloriolen gegenüber, getrennt voneinander durch einen schmalen Fluss. Einer der Numa watete durch das klare, fließende Wasser zu den Bardia. Eine weibliche Bardia hatte die Hand nach ihm ausgestreckt. Der Numa im Wasser trug einen blutroten Schein, der sich jedoch von dem seiner Anverwandten unterschied, weil er von goldenen Maserungen durchzogen war. Ob das wohl eine Art Mischling ist? , fragte ich mich. Vielleicht handelte es sich aber auch um eine ganz andere übernatürliche Gattung wie bei den Bayata? Es gab noch so viel herauszufinden – ein Gedanke, der mich zugleich begeisterte und verängstigte. Während ich es kaum erwarten konnte, mehr über Vincents Art zu erfahren, fürchtete ich mich gleichzeitig davor, welche gruseligen Enthüllungen mir noch nebenbei drohten.
    Schnell schnappte ich mir den Stapel, den Bran beschrieben hatte, und steckte alle Bücher vorsichtig in meine Tasche. Dabei gingen mir viele Fragen über all das, was ich hier entdeckt hatte, durch den Kopf. Wussten noch andere Sterbliche von diesem Archiv? Abgesehen von guérisseurs vermutlich nicht gerade viele, da war ich mir sicher. Ich war beeindruckt – überwältigt –, nun zu den Eingeweihten zu gehören. Ein gewöhnliches Mädchen aus Brooklyn, das nun viele Meter unter einer geschäftigen Weltstadt in einer magischen Höhle stand. Ein Mädchen, das bereits dringend von drei Untoten vor dem Eingang zu besagter Höhle erwartet wird , erinnerte ich mich selbst. Ich warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf die vielen einzelnen Gemälde, für die mir nun keine Zeit mehr blieb, und traf eine Blitzentscheidung. Schnell fischte ich mein Handy aus der Tasche und versuchte, die gesamte Stirnwand einzufangen.
    So habe ich die Möglichkeit, mir die Bilder ganz in Ruhe zu Hause noch einmal genau anzusehen , dachte ich. Erst als ich schon auf den Auslöser gedrückt hatte, schoss mir der panische Gedanke durch den Kopf, dass diese Höhle ja von unzähligen Zaubern geschützt wurde. Würde mein Telefon jetzt in Flammen aufgehen? Würde

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