Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
nicht gleich umgebracht habe?«, fragte ich mit einem spöttischen Lächeln. »Warum ich ihr nicht einfach ein Messer ins Herz gerammt habe, und das wär’s dann gewesen?«
»Warum, Emily?«
»Weil sie bereits tot war.«
Die Wörter prallten von den Wänden ab, nachdem ich sie gesagt hatte, und ich stellte mir vor, wie sie unter dem Türspalt hindurch wie Murmeln in das Fernsehzimmer rollten.
Sie runzelte die Stirn. »Tot? Wie das?«
»Ihre Mutter starb an Brustkrebs, als sie vier war, und sie war als Halbwaise aufgewachsen. Dann stach sie auf meinen Vater ein und verlor alles. Alles. Ihren Vater, ihr Zuhause, ihre Freunde. Sie zu töten hätte mir keine Freude gemacht. Mir keine Erleichterung gebracht. Es gab für sie nichts mehr, wofür es sich wirklich lohnte, am Leben zu bleiben.«
»Und dann war da auf einmal doch wieder etwas, wofür es sich lohnte«, sagte Doktor Gilyard, und ich lächelte.
Das zwischen Juliet und Sid geschah merkwürdig still und leise. Es handelte sich um keine spektakuläre Geschichte, die sie später einmal ihren Kindern erzählen konnten. Sid riss Juliet nicht im letzten Augenblick beiseite, bevor sie von einem Bus überfahren wurde. Aber ich spürte, wie das ganze Klassenzimmer summte und vibrierte. Der Boden erbebte. Stifte rollten von den Tischen. Bücher flatterten wie Vögel mit gebrochenen Flügeln von den Wandbrettern.
»Da wusste ich, dass sie wieder ein Leben hatte«, sagte ich zu Doktor Gilyard. »Eine Zukunft.«
»Und warum war das so wichtig, Emily?«
Ich musste tief durchatmen, ehe ich es aussprach. »Weil sie jetzt darum betteln würde.«
[zurück]
N aomi ist gerade bei Doktor Gilyard, deshalb bin ich in meinem Zimmer. Lily schläft auf meinem Bett, ihre Augenlider flattern. Ich wünschte, ich könnte auch so schlafen. Sie wirkt so zufrieden. Ich glaube, sie hat sich jetzt bei uns eingewöhnt. Vielleicht findet sie es ja gar nicht so schlecht hier. Eines ist zumindest ganz sicher: dass es ihr gefällt, mich mit lauter Fragen zu löchern. Vorhin hat sie mich gefragt, wie es sich denn anfühlte, jemand anders zu sein. Ich hab ihr nichts vorgelogen. Ich hab ihr gesagt, dass es mir Spaß gemacht hat: die Lügen, das Gefühlstheater, all die Wochen, in denen ich Juliet angelächelt und sie mit süßen kleinen Lügen gefüttert habe, während sie mich mit ihren großen braunen Augen angeschaut und jedes Wort von mir verschlungen hat.
Ich hätte erwartet, dass sie misstrauischer gewesen wäre – mir gegenüber, Sid gegenüber –, aber das war sie überhaupt nicht. Seit unserer ersten Begegnung damals waren wir drei unzertrennlich geworden. Wir besuchten zusammen den Unterricht und aßen mittags zusammen in der Cafeteria. Abends gingen wir zusammen ins Kino oder saßen im Park, solange es dafür noch nicht zu kalt war. Wir futterten gemeinsam Chips aus der Tüte und beobachteten, wie der Himmel sich von Rosa zu Lila zu Schwarz verfärbte wie ein allmählich verheilender blauer Fleck. Freitagabends gingen wir miteinander in einen Pub in Camden, in dem man keine Ausweise vorzeigen musste, und samstags war Party angesagt. Sid kannte immer irgendjemanden, der irgendwo auflegte, oder hatte irgendeinen Kumpel, der gerade achtzehn wurde. Es war wie im Sommer, bevor ich sie kennengelernt hatte, im Sommer, bevor Juliet auf meinen Vater einstach und alles auseinanderbrach, damals, als wir alle noch jung und unbeschwert und unbesiegbar waren.
Ich kam sogar zum Abendessen zu Juliet nach Hause mit, zwei Mal, manchmal sogar drei Mal die Woche. Ihre Pflegeeltern – Mike und Eve – glaubten meinen Erzählungen von wegen, meine Eltern hätten sich scheiden lassen und meine Mutter sei fast nie zu Hause, so wie auch Juliet sie geglaubt hatte. Und sobald das so war – sobald ich bei ihnen am Tisch saß und Grillhähnchen mitessen durfte und sie mich fragten, was die Schule denn so machte, da wusste ich, dass jetzt nicht mehr viel schiefgehen konnte … Ich hatte mich bei ihnen eingenistet.
Was ich Lily allerdings nicht sagte: Das Beste daran, Rose Glass zu sein, war, dass ich nicht mehr Emily Koll sein musste. Und das Beste daran, nicht mehr Emily Koll sein zu müssen, war, dass ich ganz neu anfangen konnte. Ich konnte das Jahr, in dem mein Vater in Untersuchungshaft saß und ich in Spanien war, einfach durchstreichen und wieder sechzehn sein.
Eigentlich ziemlich grässlich, mit siebzehn schon so weit zu sein, dass man ein neues Leben anfangen möchte. Es war ja
Weitere Kostenlose Bücher