Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Sommerferien gefragt.« Doktor Gilyard zog eine Augenbraue hoch, als wollte sie sagen: Und? »Ich nannte sie Nancy. Ich sprach ihren Namen so langsam und überdeutlich aus, dass es mir wie eine Ewigkeit vorkam.«
»Hast du versucht, ihre Aufmerksamkeit von ihm abzulenken?«
Ich nickte. Und es hatte funktioniert, denn Juliet war aufgeschreckt, als hätte ich sie mitten in der Nacht geweckt.
»Was hat Juliet geantwortet?«
»Dass sie erst vor Kurzem hierher zu ihrer Tante und ihrem Onkel gezogen sei.« Ich weiß noch, dass sie das irgendwie mechanisch sagte, als hätte sie diesen Satz einstudiert. Was wahrscheinlich auch der Fall war.
»Und was hast du daraufhin gesagt?«
»Ich hab sie gefragt, warum.«
»Wie hat sie reagiert?«
»Sie schaute mich entgeistert an. Sie hatte mir keine einzige Frage nach meinem Leben gestellt, deshalb glaubte sie wohl, ich würde sie auch nichts fragen.«
So ist das nämlich. Man muss als Erster aufhören, anderen Fragen zu stellen, wenn man selber keine Antworten geben will.
»Was hat sie geantwortet?«
»Sie hat mir erzählt, ihre Eltern seien einen Monat vorher gestorben.«
»Wie hat sie das gesagt?«
»Hastig, als wollte sie davor entfliehen.«
Ich weiß noch, wie Juliet mich ansah, nachdem sie das gesagt hatte. Es war ein Blick, der mir mitteilte: Genug, das reicht. Wahrscheinlich glaubte sie, dass ich sie danach in Ruhe lassen würde.
»Und – wie hast du reagiert, Emily?«
»Ich tat nicht entsetzt oder drückte ihr überflüssiges Beileid aus, sondern fragte nur, wie.«
»Was hat sie darauf geantwortet?«
»Dass sie bei einem Feuer umgekommen waren. Als ihr Haus brannte. Und dann mischte sich Sid ein.«
»Was hat er gesagt?«
Ich kicherte. »›Scheiße‹.«
»War dir bewusst, dass er euch hören konnte?«
»Nein.«
»Du hast also nicht versucht, sie extra vor ihm bloßzustellen?«
Ich dachte nach. »Ich wollte sie in Verlegenheit bringen, aber das hatte nichts mit ihm zu tun.«
»Okay.« Doktor Gilyard nickte. »Und was geschah dann?«
»Er wirkte erschrocken – ich glaube, er hat erst in dem Moment gemerkt, dass er es laut ausgesprochen hatte.«
»Hat er sich entschuldigt?«
Wieder kicherte ich. »Ja. Er stammelte, er habe über etwas geflucht, das er am Tag zuvor gehört hatte. Und dann lächelte er uns mit einem so umwerfenden Lächeln an, dass davon wohl die meisten Mädchen in Ohnmacht gefallen wären.«
»Und du, Emily? Hat es dich umgehauen?«
»Mich? Nein.«
»Du hast dich nicht sofort zu ihm hingezogen gefühlt?«
»Ich fand, dass er gut aussah«, meinte ich achselzuckend.
»Einfach nur gut aussah oder mehr?«
»Er ist eben mein Typ: groß, dunkelhaarig, lockerer Stil.«
»Du hast dich also doch sofort zu ihm hingezogen gefühlt?«
Ich merkte, worauf sie hinauswollte, und seufzte.
Doktor Gilyard nahm ihre Brille ab und sah mich an. »Ja, Emily?«
»Sie meinen, ich hab das alles getan, weil ich in einen Jungen verknallt war?«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Aber Sie haben es gedacht.«
»Ich denke gar nichts, Emily. Ich habe dir eine Frage gestellt: Hast du dich bei eurer ersten Begegnung zu ihm hingezogen gefühlt?«
»Warum ist das wichtig?«
»Warum fällt es dir so schwer, mir darauf zu antworten?«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, sagte ich.
»Worauf will ich denn hinaus, Emily?«
»Sie wollen herausfinden, was zuerst da war, die Henne oder das Ei: Ob ich ihn immer schon mochte oder ob ich ihn nur benutzt habe, um mich an Juliet zu rächen – und mich dann plötzlich Hals über Kopf in ihn verliebt habe.«
»Und was von beidem stimmt?«
»Es ging mir um Juliet!«, stieß ich hervor, umklammerte die Armlehnen und beugte mich vor. »Ich wollte sie fertigmachen, das war mein einziges Ziel. Deshalb hab ich mich an dem Tag auch darüber gefreut, dass die zwei sich kennengelernt haben.«
»Warum hast du dich gefreut?«
»Weil ich genau gespürt habe, dass er ihr gefiel. Er hat seine Entschuldigung gestammelt, und dann hat er sie angelächelt – nur sie, mit diesem schrägen kleinen Lächeln –, und dann war es um sie beide geschehen. Mich gab es gar nicht mehr.«
»Wie hast du dich dabei gefühlt, Emily?«
»Gut«, sagte ich, und meine Fingernägel bohrten sich in die Stuhllehnen.
»Wirklich? Du hattest so lange nach ihr gesucht, das erste Mal hast du wirklich Kontakt mit ihr – und dann drängt sich plötzlich dieser Junge zwischen euch?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wollen Sie wissen, warum ich sie
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