Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Körper spannte sich an. Auch jetzt, wenn ich das schreibe, spannt sich in mir etwas an. Ich kann das Gewicht seiner Hand immer noch spüren, ihre Wärme, sogar durch meine Jeans hindurch.
Das ist es, was ich hasse. Alle diese Puzzlestücke. Ich dachte nicht, dass sie etwas bedeuten. Aber Doktor Gilyard fügt sie zusammen. Sie erkennt etwas, das ich nicht erkenne.
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I ch muss ziemlich erschöpft ausgesehen haben, denn niemand hielt mir heute Morgen einen Vortrag darüber, dass ich doch bitte schön mein Frühstück aufzuessen hätte. Und sogar Naomi mampfte schweigend weiter, als ich aus einer Laune heraus auf einmal ein Zuckerpäckchen nach dem anderen aufriss und den Zucker auf dem Tisch verstreute.
Doktor Gilyard allerdings sah darin wohl ein Anzeichen von Schwäche meinerseits, eine nachlassende Verteidigungsbereitschaft, und beschloss, diesen Moment auszunutzen. »Lass uns heute über deine Mutter reden, Emily.«
»Oh, verdammte Scheiße«, murmelte ich und rieb mir mit den Fingern über meine geschwollenen Augenlider. »Ich komm mir vor, als wäre ich auf einem Volksfest, wo sie diese Buden haben, Sie wissen schon, plötzlich tauchen da Ratten vor einem auf –«
»Maulwürfe«, verbesserte sie mich.
»Maulwürfe, Ratten, egal. Und man muss sie mit einem Vorschlaghammer treffen.«
»Willst du damit sagen, dass ich eine Ratte bin?«
»Ich will damit sagen, dass ich einen Vorschlaghammer brauche.«
Ich hörte sie etwas aufschreiben. »Warum möchtest du nicht über deine Mutter reden?«
»Ich möchte heute über gar nichts reden«, sagte ich mit einem langen Gähnen. »Ich finde, wir sollten endlich mal zu dem Teil übergehen, in dem Sie mir erklären, wie Sie mir helfen wollen.«
Sie ging nicht darauf ein. »Du hast sie bisher kein einziges Mal erwähnt.«
Ich stand auf und trat ans Fenster. Auf dem Fensterbrett hatte sich eine Taube niedergelassen und trippelte von einem Fuß auf den anderen, als wollte sie sagen: SCHAU MICH AN . SCHAU MICH AN . ICH BIN FREI .
»Frei?«, hätte ich ihr am liebsten geantwortet. »Du kannst überall auf der Welt hin, und dann bist du ausgerechnet hierhergekommen, du dummer Vogel?« Aber das tat ich nicht, denn wenn ich jetzt anfange, mich mit Tauben zu unterhalten, wird Doktor Gilyard mich bestimmt mit Medikamenten vollpumpen. Deshalb klopfte ich nur gegen die Scheibe und grinste, als die Taube erschrak und davonflog.
»Warum fangen wir nicht ganz von vorne an? Was ist deine erste Erinnerung an sie?«
»Ich hab keine Erinnerungen an meine Mutter«, sagte ich, presste meinen Daumen gegen das Fenster und beobachtete, wie der Abdruck ganz langsam und wie von Geisterhand verschwand.
»Warum nicht?«
»Weil ich mich nicht an sie erinnere.«
»Du erinnerst dich an gar nichts?«
Es stimmt, ich erinnere mich an gar nichts. Ich war noch sehr klein, als sie uns verließ, und mein Vater tilgte danach alle ihre Spuren. Es gab keine Fotos von ihr, keine Erinnerungsstücke. Er sprach nie mehr ihren Namen aus. Es war, als hätte es sie nie gegeben. Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass sie da war, und dann war sie auf einmal nicht mehr da. Keine lauten Streitereien, kein Türenschlagen. Es gab keinen Zwischenfall, bevor sie verschwand; sie hat mich nicht eines Tages im Supermarkt vergessen oder sich tagelang im Badezimmer eingesperrt.
Alles, was ich habe, sind Bruchstücke. Winzige Splitter. Ihre Haarfarbe, dieselbe, die ich auch habe, hellgelb wie frisch gebackener Kuchen. Ihr Lachen, laut und fröhlich. Ihre goldenen Ringe, einer an jedem Finger. Ihre klimpernden Armreife. Und sie sang immer dieses eine Lied, jedes Mal, wenn es im Radio kam, irgendwas mit einem Zug, einem Zug, in den man einsteigt und davonfährt. Jahre später habe ich herausgefunden, dass es sich um
Midnight Train to Georgia
handelte. Als ich den Song das erste Mal im Radio gehört habe, musste ich danach stundenlang weinen.
I got to go. I got to go. I got to go.
Ich schluchzte so laut und lange, dass mein Vater immer wieder in mein Zimmer kam, um zu fragen, was los sei. Ich erzählte ihm, ich hätte einen Streit mit Olivia gehabt.
»Emily«, sagte Doktor Gilyard, aber ich drehte mich nicht um, ich starrte weiter aus dem Fenster und dachte an den Pullover, den ich eines Tages im Schrank meines Vaters gefunden hatte.
Als ich klein war, hab ich das öfter gemacht, ab und zu in seinem Schrank nach irgendeinem Hinweis gesucht, wo meine Mutter war; nach irgendeinem Zeichen, dass
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