Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
sie vielleicht zurückkommen würde.
Einmal war ich in den Sommerferien so wild entschlossen, etwas zu finden, dass ich beinahe jeden Tag in seinem Schrank nachgesehen habe. Mein Vater war den ganzen Tag unterwegs, und ich veranstaltete meine Suche, während die Haushälterin im Erdgeschoss mit Staubsaugen beschäftigt war, denn dann konnte sie mich nicht hören. Ich musste sehr vorsichtig vorgehen, weil bei meinem Vater immer alles tipptopp aufgeräumt war. Bereits mit zwölf hatte ich gelernt, die Kleiderbügel mit seinen Anzugjacken genau im selben Abstand voneinander aufzuhängen und seine Krawatten perfekt glatt zu streichen, wenn ich dort irgendetwas durcheinandergebracht hatte. Ich wusste bei ihm ganz genau, was wohin gehörte, deshalb konnte ich immer wieder alles an seinen Ort zurücklegen, als wäre nichts geschehen. Ich achtete darauf, dass die Schuhe mit der Spitze nach vorn dastanden und die schweren Flakons mit Herrenduft wie mit dem Lineal gezogen auf dem Badezimmerschränkchen aufgereiht waren.
Aber ich fand nichts.
Das ist jedoch das Ärgerliche daran, wenn man so ordentlich ist. Es fällt jede Kleinigkeit auf. Das Schlafzimmer meines Vaters war wie Doktor Gilyards Büro, alles supersauber und leer und aufgeräumt. Alles, was er besaß, war makellos. War einfach perfekt. Seine Bettwäsche sah wie neu aus, die Seife an seinem Waschbecken wie unberührt. Für alles gab es einen Schrank: einen für die Hemden, einen für die Anzüge, einen für die Freizeitkleidung. Alles hatte seinen Platz. Nirgendwo gab es einen Ort, wo man etwas hätte verstecken können. Dachte ich zumindest lange Zeit. Vermutlich hätte mir bereits damals klar werden sollen, wie geschickt er darin war, etwas vor fremden Augen zu verbergen, mit seiner perfekten Oberfläche zu täuschen. Denn dann entdeckte ich den Hemdenkarton.
Er stand auf dem obersten Brett in einem seiner Schränke und wäre mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, wenn ich nicht so verzweifelt nach irgendetwas gesucht hätte. Aber da stand er, der einzige weiße Karton in einer wohlgeordneten Reihe grauer Kartons. Und ich wusste es. Ich wusste es sofort, als ich ihn sah.
Ich war so aufgeregt, dass mir egal war, ob die Haushälterin mich hörte, als ich den Original-Charles-Eames-Stuhl meines Vaters quer durchs Schlafzimmer zerrte. Er war viel zu kostbar, um sich einfach daraufzustellen, aber auch das war mir egal. Ich musste unbedingt wissen, was in dem Karton war.
Ich holte ihn herunter, nahm den Deckel ab und schlug das Seidenpapier so ungeduldig auseinander, als wäre Weihnachten, und da war er: der Pullover. Es war ein Pullover meiner Mutter, das wusste ich, bevor ich ihn überhaupt berührte und meine Nase hineindrückte und ihren Geruch einatmete: nach Waschmittel und White Musk.
Endlich hielt ich etwas von ihr in Händen, einen Beweis, dass es sie wirklich gab. Danach ging ich Tag für Tag in das Schlafzimmer meines Vaters und roch daran. Ich prägte mir Wolle und Farbe des Pullovers ganz genau ein. (Rosa. Die Farbe der
Quality Street
-Erdbeerbonbons, die keiner mag.) Aber jedes Mal, wenn ich den Karton öffnete, verflüchtigte sich etwas von ihrem Duft, bis schließlich nichts mehr davon da war. Ich hatte alles aufgebraucht. Am Ende roch er nach nichts mehr, nur nach Wolle, und es brach mir das Herz.
Deshalb bin ich jetzt mit allen Erinnerungen sehr vorsichtig. Deshalb passe ich überall gut auf, dass mir so etwas nicht noch einmal passiert. Wahrscheinlich hatte mein Vater den Pullover auch deshalb fein säuberlich in dem Hemdenkarton zusammengelegt und auf dem obersten Brett in seinem Schrank verstaut, an das man nicht so leicht rankam. Das verstehe ich seitdem. Und als ich Doktor Gilyard heute gesagt habe, dass ich mich an nichts erinnere, meinte ich damit eigentlich: Natürlich erinnere ich mich, aber ich gebe die Erinnerungen an meine Mutter nicht her.
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I ch bin wieder auf Nikotinentzug.
Es ist nicht meine Schuld, es ist dieser Ort, und das alles ist sowieso vollkommen lächerlich. Ich meine, das hier ist eine Einrichtung für jugendliche Straftäter, kein Kindergarten. Trotzdem haben sie uns heute Vormittag in der Kunsttherapie Muffins dekorieren lassen, als wären wir kleine Kinder. Erwarten sie hier nicht von uns, dass wir uns abstechen und uns beim Duschen gegenseitig an die Muschi fassen? Ich bin achtzehn. Ich dekoriere keine Muffins. Ich rauche Zigaretten und trinke Wodka und küsse Jungs, von denen ich noch
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