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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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zu selten sah, sollte ich nun öfter absagen, ihre Geburtstage missachten und Feierlichkeiten mit ihnen meiden?
    In diesem Punkt gewann ich eine wunderbare Erkenntnis. |73| Gerade wenn man gar keine Zeit hat, ist die Sehnsucht nach Menschen, Orten oder Dingen, die man mag, am allergrößten. Sie ist einfach eine weitere Form von Druck, und das macht sie so schwer erträglich. Nachdem dank der Reduzierung meiner Termine der Druck in meinem Leben generell nachgelassen hatte, beruhigten sich auch diese Sehnsüchte. Ich merkte, dass ich viele Freunde nicht ständig sehen muss. Sie blieben schließlich jederzeit für mich greifbar. Ich hätte sofort Verbindung zu ihnen aufnehmen können. Wichtiger war es zu wissen, dass es sie überhaupt gab. Im Nachhinein betrachtet, zählen vor allem die Erinnerungen und die Qualität einzelner Begegnungen.
    Absagen fallen mir weiterhin schwer, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Es geht nichts über die Erleichterung, die man verspürt, wenn man rechtzeitig eine Entscheidung gefällt hat und sich dann entsprechend verhält. Früher habe ich zu allem und jedem zugesagt, oft zu mehreren Festlichkeiten an einem Abend. Bis kurz zuvor hoffte ich, mindestens eine Verabredung davon wahrnehmen zu können. Oft bin ich im Endeffekt zu niemandem gegangen, sondern aus lauter Müdigkeit zu Hause versackt. Am nächsten Tag musste ich mich dann bei den Gastgebern ausführlich dafür entschuldigen. Was hatte ich gewonnen? Gar nichts. Wer mich eingeladen hatte, war enttäuscht, dass ich wider Erwarten nicht gekommen bin.
    Meine Befürchtung, spätestens ab dieser Phase meines Versuches würden mir die ersten lukrativen Aufträge durch die Lappen gehen, bewahrheitete sich nicht. Wer es darauf anlegt, die Zahl seiner Termine zu reduzieren, entwickelt sehr schnell ein System dafür, was wirklich wichtig |74| ist. Eine Verabredung, von der die berufliche Weiterentwicklung und finanzielle Sicherheit abhängen, würde man niemals absagen – selbst dann nicht, wenn man dadurch unter Zeitdruck gerät.
     
    Mein Lebenstempo hatte sich allmählich derart verringert, dass ich mir tatsächlich wie ein Faultier vorkam. Dabei tragen diese Tiere ihren Namen zu Unrecht, denn sie sind nicht faul, sondern lediglich langsam. Sobald sie in Stress geraten, fangen sie an zu weinen, so erzählt man sich in Peru, wo diese Tiere in den öffentlichen Parks leben. Das könne man sehr leicht feststellen, indem man nah an sie herantrete und sie unverhohlen anstarre. Nach einer Weile werde ihnen das zu viel, und sie drehten den Kopf sehr langsam zur anderen Seite. Sie mögen keinen intensiven Blickkontakt. Wenn man sie dann von der anderen Seite weiter anstarre, drehten sie den Kopf aufs Neue. Wenn der Störenfried nun noch immer nicht lockerlässt, lassen sie ihren Ast nicht etwa los und fliehen, sondern sie werden traurig. Tränen treten in ihre Augen.
    Langsamkeit ist keine Faulheit, doch wenn man jahrelang im Galopp unterwegs war, bedarf die neue Gangart durchaus der Gewöhnung. Ich trat in ein anderes Universum ein, in eine Welt, in der eine andere Zeitrechnung galt. Sie ähnelte der Wirklichkeit von Kassiopeia, der Schildkröte aus
Momo
von Michael Ende, die rückwärtsgeht, wenn sie ihre ungleich schnelleren Verfolger abschütteln will. Es kam mir vor wie ein Spaziergang durch einen Paradiesgarten: Verwundert blickte ich nach rechts und links und sah mir die Fremde an.
    Ich fürchtete, dass ich bald überhaupt keinen Stress mehr würde ertragen können und die Fähigkeit, mich |75| schnell zu bewegen, komplett verlöre. Selbst wenn es einmal wirklich schnell gehen muss, in einem Notfall beispielsweise, würde ich womöglich apathisch herumstehen und nicht wissen, was zu tun sei.
    Besonders stark hatte ich dieses Gefühl, als ich einige Wochen nach Beginn meines Versuches meinen Vetter mit seiner Frau spontan zum Abendessen einladen wollte. Hans ist Architekt, er arbeitet als Festangestellter in einem Büro, und auch seine Frau ist voll berufstätig. Unsere Kinder sind ähnlich alt, sie gehen auf dieselbe Schule, und wir sind gut miteinander befreundet. Obwohl wir alle einen vollgepackten Alltag haben, schaffen wir es, uns regelmäßig zu sehen, ja sogar im Austausch über unsere jeweiligen Projekte zu bleiben. Ich schickte Hans also Anfang der Woche eine E-Mail und fragte an, ob seine Frau und er Lust hätten, wieder einmal bei uns vorbeizukommen. Wie wäre es am Freitag?, schrieb ich ihm. Es würde auch einen Teller

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