Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Suppe geben.
Am Mittwoch prüfte ich die eingegangen Nachrichten, doch von meinem Vetter keine Spur. Keine Absage, keine Zusage, rein gar nichts. Merkwürdig, dachte ich. Normalerweise gaben die beiden auf eine Einladung prompt Bescheid. Ob sie sich eine neue Adresse eingerichtet hatten? Oder waren sie kurzfristig verreist? Aber es war mitten in der Schulzeit. Das hätte ich mitbekommen. Die E-Mail-Daten hatten sich auch nicht verändert, das konnte ich nachprüfen.
Donnerstagmittag hatte ich immer noch keine Antwort auf dem Schirm. Allmählich fing ich an, mir Sorgen zu machen. Hoffentlich war nichts Schlimmes passiert. Oder hatten wir die beiden verärgert? In Gedanken ging ich die Anlässe durch, bei denen wir uns in der letzten |76| Zeit begegnet waren. Hatte es einen Missklang oder Grund zu einem Missverständnis gegeben? Mir fiel rein gar nichts ein. Wir kannten uns seit Jahren, zwischen uns herrschte tiefe Vertrautheit. Da gab es gar keine Möglichkeit, sich falsch zu verstehen. Bisweilen waren wir verschiedener Ansicht, aber deshalb gab es noch lange keinen Streit, der dazu führte, dass man von heute auf morgen nichts mehr voneinander wissen will.
Am Freitagmorgen schließlich griff ich zum Telefonhörer. Würden wir uns nun abends sehen oder nicht? Ich brauchte endlich Klarheit. Nach mehrmaligen Versuchen erreichte ich meinen Vetter auf dem Mobiltelefon. Er klang wahnsinnig hektisch. Er habe gerade gar keine Zeit. Er rufe zurück.
Ich kenne das von den Festangestellten unter meinen Freunden. Von außen besehen hat sich an ihrem Leben nichts verändert, aber in ihrem Büro oder Betrieb ist auf einmal die Hölle los. Bei Architekten sind es die Wettbewerbe, in den Werbeagenturen die Präsentationen, bei Journalisten der Redaktionsschluss. Da verdichtet sich etwas, alle werden nervös, und Panik bricht aus. Keiner ist mehr zu sprechen. Nicht einmal die Sekretärinnen gehen ans Telefon. Trotzdem wunderte ich mich. War ich trotz meines reduzierten Lebenstempos immer noch zu ungeduldig? Mein Vetter hatte sein Leben lang Ruhe bewahrt. Wann immer wir uns über mangelhafte Auftragslagen ausgetauscht oder untereinander unsere finanziellen Sorgen besprochen hatten, war er immer derjenige gewesen, der für Geduld plädierte. Das Leben dauere lang, für Erfolg und Prosperität sei noch unendlich viel Zeit.
Als Beweis führte er in solchen Gesprächen gern seinen Meister ins Feld. Bevor Hans Architektur studierte, hatte |77| er eine Schreinerlehre absolviert. Der Meister, bei dem er damals eine Stelle fand, muss ein außergewöhnlicher Mann gewesen sein. Er lebte im tiefsten Franken, aber seine Kunden kamen aus allen Teilen des Landes. Sie vertrauten ihm ihre kostbarsten Möbel an, damit er sie restauriere, oder brachten ihm Pläne und Zeichnungen, damit er sie nachbaue. Am liebsten, erzählte mein Vetter, besprachen sie ihre Aufträge mit ihm persönlich. Es ging ihnen offenkundig nicht nur um seine handwerklichen Fähigkeiten und Erfahrungen, sondern vor allem um das Gespräch, die Begegnung. Es war ihnen nicht zu verdenken, denn der Mann strahlte eine faszinierende Gelassenheit aus.
Bis ins hohe Alter behielt er eine unendlich ruhige Hand. Trotz der leicht brennbaren Materialien, mit denen er als Schreiner zu tun hatte, pflegte er auch bei der Arbeit zu rauchen. Stunde um Stunde, so schien es meinem Vetter, stand sein Meister mit der Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger vor ihm in der Werkstatt, erklärte ihm eine bestimmte Technik oder erzählte eine Begebenheit aus seiner Berufspraxis. Dabei wuchs die Asche an seinem Glimmstengel zu einem langen, grauen Wurm, und Hans wartete gebannt darauf, dass sie endlich herunterfiele. Doch nichts dergleichen geschah.
Unauslöschlich hat sich meinem Vetter dieser Anblick eingeprägt. Diese Zigarette mit der ellenlangen Asche stand für die Gelassenheit und Ruhe, die dieser Mann ausstrahlte. Sie war Teil seines Erfolgs, wegen dieser Eigenschaften riss der Strom seiner Kunden nie ab.
Und jetzt das: Keine Zeit, keine Zeit. Ich fühlte mich auf einmal wie auf einem fremden Stern. Offenbar hatte ich vergessen, wie es in der Welt normalerweise zugeht. |78| Wie konnte ich nur erwarten, dass mein armer Vetter schon freitagmorgens sagen kann, ob er abends bei mir zum Abendessen sein könne. Schließlich hatte er zu tun!
Es war sonnenklar: Ich hatte den Anschluss verloren. Wer entschleunigen und sich der Muße widmen möchte, muss sich offenbar daran gewöhnen, dass er
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