Von Namibia bis Südafrika
Die rund 6 000 Sprachen unserer Welt können Sprachwissenschaftler auf sechs Ursprachen zurückverfolgen. Fünf davon sind ausgestorben, aber die Sprache der Khoi San ist die letzte dieser Ursprachen der Menschheit. Sie besteht aus über 70 Klick- und Schnalzlauten, und beim Versuch, sie nachzusprechen, verknotet man sich unweigerlich die Zunge. In einer funktionierenden Gemeinschaft leben Khoi San in einer nahezu idealen Gesellschaft. Sie kennen kein Eigentumsrecht, keinen Neid. Sie haben keine Lust, Reichtümer zu horten. Sie kennen keine Hierarchien und keine Führungsorgane, vater- und mutterrechtliche Erbfolgen existieren parallel, die nachhaltige Nutzung der Pflanzen- und Tierwelt ist bei ihnen Normalität. Probleme werden in der Gruppe so lange besprochen, bis ein Konsens erreicht ist. Vielleicht finden sich darin die Gründe, weshalb Khoi San so unbeliebt sind. Irgendwie halten sie uns einen Spiegel vor Augen, und was wir darin sehen, gefällt uns nicht, denn es ist unsere eigene Unzulänglichkeit. Nach langem Palaver einigten wir uns darauf, dass mich die Khoi San ins Veld führten, wie sie die Savanne nennen, um mir die Suche nach wild wachsenden Teufelskrallen zu demonstrieren. Ich trug meine Wüstenstiefel („Schlangen! Skorpione! Obacht geben! “, stand im schlauen Buch), und meine wüstentauglichen Outdoor-Klamotten. Kommtsa Boo trug ein T-Shirt mit Micky-Maus-Aufdruck, das schon vor zehn Jahren seine besten Zeiten hinter sich gehabt hatte, und eine kurze Turnhose der Marke Löcher. Schuhe? Fehlanzeige. Seine Kumpels Cjomo Glaqo, Cgun Nqeni und Naiaici N!ank kamen in ähnlicher Aufmachung. So stapften wir los. Das heißt, ich stapfte, während die Khoi San innerhalb kürzester Zeit einen halben Kilometer Vorsprung herausgelaufen hatten. Ich habe mein Leben lang Leistungssport getrieben – Boxen und Handball –, bin also nicht ganz unsportlich, aber das war frustrierend. Keuchend rannte ich hinter den leichtfüßigen Khoi San her, die immer wieder auf mich warteten, dabei eine Zigarette rauchten und sich mit ein paar Lungenzügen darüber hinweg trösteten, dass der schwitzende Weiße bei diesem Ausflug keine gute Figur machte. Sobald ich sie erreichte, ging es weiter, und nach einer Stunde war ich bereit, meine Lungen auszuspucken. Die Sonne kletterte über den Zenit, die Temperatur stieg auf 45 °C, die Savanne dampfte wie eine Sauna nach dem Aufguss. Wie nasse Säcke hingen mir die Outdoor-Klamotten am Körper, und in meinen Wüstenstiefeln konnte ich eine Froschlaichzucht gründen. Die Khoi San grinsten, rannten, grinsten wieder, rannten weiter, zwischendurch zündeten sie sich eine neue Kippe an, und ich dachte, wenn sie jetzt nicht bald eine Pause einlegen, brauche ich keine Teufelskralle mehr, nie wieder ein Steak von Horst, der Ballon wird künftig ohne mein Zutun fahren, und das Schlimmste, nie wieder wird mir ein kühles Bier durch die Kehle rauschen. Dieser Gedanke gab mir neue Kraft. Ich sprintete um eine Dornenhecke und wäre um ein Haar über die Khoi San gefallen, die aufgeregt diskutierend um eine sandige Stelle hockten. Dort sah ich einen Fußabdruck so groß wie ein Wagenrad. Ein Elefant! Die Khoi San fürchten sich vor nichts und niemanden, doch vor Elefanten haben sie Respekt. Es kommt vor, dass eine Herde Elefanten durch das Dorf zieht und dabei alles niedertrampelt. Deshalb diskutierten sie jetzt lang und breit darüber, was zu tun sei. Ich verstand kein Wort, aber später half mir Johan auf die Sprünge, der sich genügend Brocken Buschmannsprache angeeignet hatte. Demnach wussten die Khoi San, wann der Elefant vorbeigekommen war (am Morgen), was er wollte (er war auf der Suche nach einem Wasserloch), und dass es ein Einzelgänger war (gar nicht gut, denn diese sind häufig launisch und unberechenbar). Ihr Wissen über Flora und Fauna der Wüste und Trockensavanne versetzte mich auch in den folgenden Tagen immer wieder in Erstaunen. Die Khoi San kennen jedes Tier, jedes Insekt, jeden Strauch, jeden Busch. Sie sind in der Lage, in dieser Wüstengegend zu überleben, weil sie Nährwert und Wassergehalt aller Pflanzen, Nüsse, Früchte, Zwiebeln und Knollen kennen. Außerdem sind sie großartige Jäger, auch wenn diese Fähigkeit mehr und mehr verloren geht, da ihnen die Jagd verboten worden ist. Trotzdem sollte es mir ein paar Wochen später gelingen, mit einer Gruppe Khoi San in der südafrikanischen Askam-Region auf die Jagd zu gehen. Das war der Moment, an dem sich meine
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