Von Zweibeinern und Vierbeinern
Da-da-da-da-da... aus. Diesmal schürzte er die Lippen, legte die Hände auf die Knie und beugte sich dicht über die Tastatur, als wolle er sich die weißen und schwarzen Streifen näher betrachten. Aber er zeigte keine Panik, sondern nur so etwas wie Neugier.
In der fast greifbaren Stille im Raum konnte man das Hämmern meines Herzens sicher hören. Ich fühlte, wie Helens linkes Bein gegen mein rechtes zitterte.
Miss Livingstones Stimme war sanft wie eine leichte Brise. »Jimmy, mein Junge, wollen wir es noch einmal von vorn versuchen?«
»Ja, gut.« Wieder legte er los wie ein Hurrikan, und man konnte sich nicht vorstellen, daß es je eine Flaute geben könnte bei so viel Virtuosität.
Inzwischen kannten die anderen Eltern den Tanz des Müllers fast ebenso gut wie ich, und wir warteten gemeinsam auf die bedrohliche Passage. Jimmy steuerte in halsbrecherischem Tempo darauf zu. Tam-te-ram-tam-tam-tam-tam, Da-da-da-da-da – Stille.
Helens Knie schlugen jetzt gegeneinander, und ich warf einen ängstlichen Blick auf ihr Gesicht.
Jimmy saß regungslos da. Nur seine Finger trommelten nachdenklich gegen das Holz des Klaviers. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Ich sah verzweifelt um mich. Auch Jeff Ward war in einem schlimmen Zustand, sein Gesicht war fleckig und auf seiner Stirn schimmerte Schweiß.
Schließlich beendete Miss Livingstone den schrecklichen Augenblick. »Nun gut, Jimmy«, sagte sie. »Das macht nichts. Setz dich jetzt wieder auf deinen Platz.«
Mein Sohn stand auf, marschierte über die Bühne, stieg die Stufen herunter und setzte sich zu seinen Gefährten in der zweiten Reihe.
Ich fiel in meinen Sitz zurück. Also das war’s. Schmach und Schande. Der arme Kerl war durchgefallen. Er schämte sich sicher, obwohl man es ihm nicht anmerkte.
Ich fühlte mich hundeelend. Einige Eltern drehten sich zu uns um und lächelten uns freundlich zu. Das half auch nichts. Den Rest des Konzertes hörte ich kaum, was schade war, denn als die größeren Jungen und Mädchen zu spielen begannen, hob sich das musikalische Niveau beträchtlich. Chopins Nocturnes, Mozart-Sonaten, ein großer, schlanker Junge spielte ein Impromptu von Schubert. Alle boten wirklich Hervorragendes – alle, bis auf Jimmy, der als einziger sein Stück nicht zu Ende gespielt hatte.
Am Schluß ging Miss Livingstone auf die Bühne. »Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für die freundliche Aufnahme, die Sie meinen Schülern bereitet haben. Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen.«
Wieder wurde geklatscht, und als Stühle zu scharren begannen, stand ich auf und sagte zu Helen: »Laß uns gehen, Helen.« Meine Frau nickte.
Aber Miss Livingstone war noch nicht am Ende. »Nur noch eins, meine Damen und Herren.« Sie hob eine Hand. »Unter uns ist ein junger Mann, der sehr viel mehr kann, wie ich weiß. Ich würde nicht zufrieden nach Hause gehen können, ohne ihm noch eine Chance zu geben. Jimmy.« Sie wandte sich an die zweite Reihe. »Jimmy, möchtest du es nicht noch einmal versuchen?«
Während Helen und ich entsetzte Blicke tauschten, kam von vorn mit munterer Stimme die prompte Antwort: »Ja, ich versuch’s noch einmal.«
Ich konnte es nicht glauben. Das Martyrium konnte doch nicht noch einmal von vorn losgehen! Aber alle setzten sich wieder, und eine vertraute kleine Gestalt stieg die Stufen hinauf und ging schnurstracks auf das Klavier zu.
Aus großer Entfernung hörte ich Miss Livingstone sagen: »Jimmy spielt für uns Der Tanz des Müllers.« Sie hätte es nicht zu sagen brauchen – wir wußten es alle.
Wie in einem Alptraum nahm ich wieder Platz. Als Jimmy seine Hände auf die Tasten legte, ging ein Zittern der Spannung durch den stillen Saal.
Er fing an wie immer, und ich holte ein paarmal tief Luft, um über den sich schnell nähernden Moment der Gefahr hinwegzukommen. Ich wußte, er würde wieder stocken, und ich wußte auch, daß ich dann bewußtlos zu Boden sinken würde.
Ich wagte nicht, jemanden anzusehen. Als er sich dem kritischen Punkt näherte, schloß ich fest die Augen, hörte aber die Musik trotzdem laut und deutlich. Tam-te-ram-tam-tam-tam-tam, Da-da-da-da-da... dann eine Pause von unerträglicher Länge, und dann: Didel-didel-dom-dom, didel-didel-dom-dom – Jimmy war gnädig über den Punkt hinweg...
Er raste durch die zweite Hälfte des Stückes, aber ich öffnete die Augen erst wieder, als er zum Finale kam. Jimmy machte ein richtiges Festmahl daraus, er senkte den Kopf und hämmerte mit den Fingern
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