Voodoo Holmes Romane (German Edition)
lauschten, konnten wir uns noch nicht vorstellen, was er damit meinte. Heute reicht es, an Tyne zu denken, um einen kalten Schauder den Rücken hinablaufen zu spüren. Ich sehe dann vor dem inneren Auge die Ahnengalerie im langen Rundgang des Schlosses, das viereckig angelegt war, und nur lebensgroße Gemälde jener Mitglieder erfasste, die als verrückt gegolten hatten. Wer sie vor Augen hatte, dessen Seelenheil war selbst in Gefahr. Der Einfluss der Gemälde war fatal, gerade während der Wintermonate. Man versuchte, etwas Bewegung zu machen und wurde von der Unwirtlichkeit der Gegend davon abgehalten, vor das Tor zu treten. Stattdessen merkte man, daß man nicht spazierte, sondern Tag für Tag durch Gänge getorkelt war, die von flackernden Fackeln erhellt und auch etwas gewärmt wurden, und daß man dabei wieder und wieder in Gesichter auf Gemälden gestarrt hatte, die entweder gewaltsam gestorben (in dem Fall trugen sie ihre Köpfe unter dem Arm) oder verrückt geworden waren (in dem Fall sahen sie aus, als trügen sie ihre Köpfe am liebsten unter dem Arm). Wenn man das Licht-Schatten-Spiel der Fackelflammen berücksichtigte, von denen man beim Gehen leicht ins Taumeln geriet, und dann noch den Anblick dieser Gesichter, dann darf man sich nicht wundern, daß viele Schlossbewohner, zum Teil auch das Personal, auf Tyne chronisch halluzinierten.
Ein automatischer Rückzugspunkt war da die Schlossbibliothek, ein riesiger, hoher Raum im obersten Stockwerk des Gebäudes, mit einem atemberaubenden Blick auf das Meer. Sie enthielt Schriften seit 1182, darunter die Aufzeichnungen der Ermittler, seither, die sich mit den Mordfällen beschäftigt hatten, und die wissenschaftlichen Arbeiten, die Wolkenformationen betreffend. Die frühen Aufzeichnungen waren in lateinischer Sprache angefertigt worden, vom späten Mittelalter dann in einem altertümlichen Englisch. Wer das hier so Fall für Fall studierte und gerade durch die endlosen Gänge des Schlosses getorkelt war, war schnell geneigt, Schloß Tyne als für Lebende unbewohnbar einzustufen. Nur die große Zeitspanne zwischen den Morden, manchmal ein Menschenleben, verhinderte wahrscheinlich, daß man das Schloss aufgab und den vier Winden überließ, oder zumindest jene vier seeseitige Gemächer mit den großen Balkonen, über die der heimtückische Mörder jeweils nachts eingedrungen war.
Zurück nach London in den Shay-Club. „Es geht also um Morde?“ fragte Holmes gerade.
„ Ja, es waren gewaltsame Todesfälle“, meinte Cumberton-Shoyle. „Das Merkwürdige daran ist nur, daß er nur einmal pro Generation zuschlug, dann aber immer auf dieselbe Art und Weise.“
„ Ein Mörder, der Jahrhunderte lebte“, kommentierte Holmes.
„ Gewissermaßen. Es übersteigt das Vorstellungsvermögen. Er schlug allen, die er tötete, im Verlauf eines verzweifelten Zweikampfes das Haupt mit einem Schwert ab. Deshalb hört man ja diese Geschichten im Dorf. Schon im Mittelalter hatte sich die Legende eines Flugtieres herausgebildet, eines Drachen, der aus den Tiefen des Meeres hervorflog, um an der Brüstung der Balkone von Tyne Fuß zu fassen und mit vorgerecktem stählern harten Haupt in die Kammern nach Menschenfleisch zu fahren, das er dann warm verspeiste. Es sind Greuelmärchen, gewiss. Aber diese stehen in direkter Verbindung zu den nackten Tatsachen. Der Mörder konzentrierte sich immer auf die Köpfe seiner Opfer, und fraß tatsächlich nur jene, wobei man dann einen kopflosen Leichnam fand.“
Bei diesen Worten fiel mein Blick auf Lady Cumberton-Shoyle, die diese Erzählungen zwar kennen mochte, nun aber sichtlich blaß geworden war. Ich kramte in meiner Tasche nach dem
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