Voodoo Holmes Romane (German Edition)
Tagesreise vom Schloss entfernten Chiswick, durch das wir gerade fuhren, hatte wohl einen Akt angelegt, aber darin stand nur das Notwendigste.
Am frühen Morgen des 21. März 1893 gegen 3:43 Uhr war ein Unbekannter über den Balkon ihres Schlafzimmers eingedrungen und hatte die Schlafende mit der Klinge eines Schwertes, eines Beiles oder eines vergleichbaren Gegenstandes ermordet. Danach verschwand er spurlos, das Haupt der Enthaupteten mit sich nehmend. Man konnte am Bettlaken und der Matratze die längliche Spur des Mordinstrumentes und Blutflecken erkennen. Die Bettwäsche war zerwühlt. Auf dem Boden fand man Wasserspuren, was nicht weiter erstaunlich war, denn es hatte am Vorabend ein Gewitter gegeben, und der Eindringling mußte über das Dach gekommen sein, das vom Regen noch glitschig war. Die Tür der Kammer war verschlossen, der Schlüssel steckte innen. Da der Weg über das Dach nur mit Kletterhilfen und fremde Hilfe überhaupt denkbar war, wurde von Seiten der Chiswicker Polizei in der Kammer intensiv nach versteckten Türen gesucht, wie auch nach Mechanismen, wie man die Eingangstür auch dann öffnen könnte, wenn der Schlüssel innen steckte. Nachdem man daran gescheitert war, stellte man das Verfahren ein mit einem kleinen Vermerk auf dem letzten Blatt, der lautete: „Nach Ansicht des Unterzeichneten kann es nur einen geben, der diese Konstellation des Tatortes herstellen konnte: Lord Oswin Cumberton-Shoyle, zum Beispiel, indem er vor Eintreffen der Polizei eine vorher vorhandene Geheimtür durch bauliche Maßnahmen entfernen ließ. Allerdings fanden sich keine in diese Richtung weisenden Spuren, weshalb die Ermittlungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ruhen müssen.“
Mit der historischen Serie, deren Endpunkt dieser Mord war, beschäftigte man sich gar nicht erst, obwohl die Ähnlichkeiten frappant waren. Man hielt die Fälle für geschichtlich, und von da her für unlösbar. Außerdem war ja, wie schon erwähnt, seit dem späten 18. Jahrhundert kein weiterer Todesfall vorgekommen. Wenn es sich bei den Tätern jeweils um Cumberton-Shoyles gehandelt hätte, dann konnte man die These vertreten, es sei über die Jahrhunderte zu einer Sozialisierung gekommen, nach der die männlichen Mitglieder der Familie ihre Mordgelüste kompensiert und sublimiert hätten und ihre Gewalttaten ganz auf die Hasenjagd, der sie allerdings heftig frönten, verlegt hätten.
Meine erste Aufgabe war es dann, wie Holmes und ich während der Fahrt abgesprochen hatten, nach unserem Eintreffen im Schloss in den vorhandenen Unterlagen möglichst diskret zu überprüfen, ob es zwischen den Todesfällen der Frauen (denn durchwegs handelte es sich bei den Verstorbenen um solche, während alle Wahnsinnigen der Familie Männer waren) und ihrer Kinderlosigkeit Zusammenhänge gebe – und tatsächlich war es so, daß alle Ermordeten es verabsäumt hatten, ihren Ehegatten im Laufe der Jahre Nachkommen zu schenken. Der riesige, ehrwürdige Stammbaum der Cumberton-Shoyles war überhaupt recht schmal, und unter jedem Namen eines männlichen Nachkommen fand sich ein Nest von früh verstorbenen Ehefrauen. Je länger man aber vor dem wuchtigen Stammbaumgemälde stand, desto stärker spürte man etwas Undefinierbares, Dunkles. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was es war: Die völlige Abwesenheit weiblicher Nachkommen. Es gab meist nur ein Kind in diesen Ehen, einen, höchstens zwei Knaben, nie aber Mädchen. Alles Weibliche, das auf Schloss Tyne lebte (adelig, wohlgemerkt, denn es gab da keinen Mangel an wohlansehnlichen Dienstmädchen) kam von auswärts. Das war ein Teil der Dunkelheit. Das Originäre,
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