Voodoo Holmes Romane (German Edition)
Typische des Adelssitzes war ebenso unzweifelhaft, ein dunkles, mächtiges Kalksteingebäude, das an eine mittelalterliche Raubritterburg erinnerte. Der Eindruck, als die Kutsche auf dem Kies des Vorplatzes ausrollte, konnte nicht bedrückender Sein. Das Schloss war im Laufe der Jahrhunderte von der Witterung abgedunkelt, an manchen Stellen fast schwarz. Dazu passten die Vögel. Einer davon hockte, als wir aus der Kutsche ausstiegen, wenig mehr als zwei Meter von uns entfernt auf einer verwaschenen Säule, und starrte uns unverwandt an. Ich hatte so ein Tier noch nie gesehen. Für eine Möwe war es eindeutig zu groß. Es waren Vögel, aber sie hatten etwas von Raubkatzen, denn sie schienen kein Gefieder zu haben, sondern eher ein Fell. Als Holmes, dem nichts Respekt einzujagen schien, einfach laut „Buh!“ rief und in die Hände klatschte, flatterte der Vogel zwar schwerfällig in die Höhe, doch dann schritt er davon, als könne er gar nicht fliegen, eher wie ein Pfau oder ein Truthahn. Ich kann die Beklommenheit nicht erklären, die mich befiel, als ich auf die Fassade des Schlosses hochblickte und dort oben drei weitere dieser Vögel sah. „Wie nennt man die Viecher eigentlich?“ fragte ich den Kutscher, der vor mir Aufstellung genommen hatte. Er zuckte mit den Achseln und fuhr damit fort, unser Gepäck abzuschnallen. Lord Cumberton-Shoyle, dessen Kutsche schneller gefahren war, kam nun die Schlosstreppe herab, gefolgt von einigen Dienstboten, und wir wurden dann in unsere Gemächer geführt, um etwas auszuruhen.
Vor dem Dinner blieb noch etwas Zeit, und ich ging in die Bibliothek, ein Raum, in dem ich mich sofort wohlfühlte. Sie lag im obersten Geschoss des Schlosses und überblickte durch die Scheiben eines riesigen Wintergartens das Meer in einer Freizügigkeit, die sonst noch nirgendwo erlebt habe. Ich fand einen noch relativ frisch aussehenden Folianten, in dem der Fall Lidijas beschrieben war, deren Stimme ich in der Seance in London gehört zu haben glaubte. Die erste Ehe Oswins war kinderlos verlaufen, und seine Gemahlin Lidija, aus englischem Hause, las ich nun, war unter unklaren Umständen verstorben auf einer Seereise, als ihr Körper von einer unerwarteten Woge über Bord gespült worden sei – während einer Dampferfahrt im Packeis, unter der Mitternachtssonne. So die offizielle Version, die auch den Zeitungen übergeben worden war. Danach erfuhr ich nun von einem Schreiber, der im Dienste des Lords stand, daß es auch eine inoffizielle Version gab. Tatsächlich aber nämlich, wie seine Lordschaft während der Fahrt schon erwähnte, hatte auch Lidija das Schicksal der Herrinnen auf Tyne ereilt: Man fand ihren Leib leblos mit fehlendem Kopfe.
„ Glauben Sie den ganzen Quatsch denn überhaupt?“ Ich fuhr von meinem Sitz hoch. Unser Gastgeber hatte die Bibliothek betreten. An seiner Seite erkannte ich Holmes.
„ Mir fällt es schwer, all das“ – seine Handbewegung meinte den ganzen Raum – „für bare Münze zu nehmen. Ich bitte Sie: Wie verrückt ist die Geschichte denn. Ein Fluch. Tatsache ist, daß meine Lidija, Gott hab sie selig, gestorben ist, ja, wie ich gern zugebe, unter mysteriösen, schaurigen Umständen. Aber all das, was meine Vorfahren hier akkumuliert haben, wer sagt uns, daß all das nicht eine großangelegte Fiktion ist, eine Fälschung meines Vaters, meines Großvaters? Wir sind doch alle verrückt, und das seit Jahrhunderten. Vielleicht besteht die Verrückheit darin, dergleichen Wahngebäude aufzustellen.“
„ Sie meinen also, dieser Stammbaum, die uralten Gemälde draußen im Flur, all das wäre also wenige Jahrzehnte alt und nur angefertigt, um nachfolgende Generationen zu täuschen?“ fragte ich
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