Vor aller Augen
mir das Gefühl, wieder in meinem Revier zu sein. Ich war verblüfft und freudig überrascht, wie weit die Unterlagen zurückreichten und welche Möglichkeiten FBI-Agenten zur Verfügung standen. Die Ressourcen des »Büros« waren unvergleichlich gröÃer als im Polizeidezernat von Washington.
Nach mehreren Stunden hatte ich weniger als ein Viertel der Akten über Sklavenhandel mit WeiÃen durchgearbeitet, und das waren nur die Fälle in den Vereinigten Staaten.
Eine Entführung weckte mein besonderes Interesse. Es ging um eine Anwältin in Washington, Ruth Morgenstern. Man hatte sie zuletzt gegen halb zehn Uhr abends am 20. August gesehen. Eine Freundin hatte sie in der Nähe ihrer Wohnung in Foggy Bottom abgesetzt.
Ms. Morgenstern war sechsundzwanzig, wog knapp fünfzig Kilo, hatte blaue Augen und schulterlanges blondes Haar. Am 28. August fand man in der Nähe des Nordausgangs der Anacostia-Marinebasis ihren Ausweis. Zwei Tage später wurde ihr Dienstausweis auf einer StraÃe gefunden.
Ruth Morgenstern selbst war immer noch vermisst. In ihrer Akte stand der Vermerk: Wahrscheinlich tot.
Ich fragte mich: War Ruth Morgenstern tot?
Was war mit Mrs. Elizabeth Connolly?
Gegen zehn Uhr, gerade als ich furchtbar gähnen musste, stieà ich auf einen Fall, bei dem ich sofort hellwach wurde. Ich las den Bericht zweimal hintereinander.
Es ging um die Entführung einer Frau namens Jilly Lopez in Houston. Die Entführung hatte vor elf Monaten im Houstonian Hotel stattgefunden. Zwei Männer â ein Team â waren gesehen worden, wie sie in der Nähe des Wagens des Opfers in der Tiefgarage herumlungerten. Mrs. Lopez wurde als »sehr attraktiv« beschrieben.
Wenige Minuten später sprach ich mit dem Polizisten in Houston, der für den Fall zuständig gewesen war. Detective Steve Bowen war neugierig und wollte wissen, weshalb ich mich für diese Entführung interessierte. Er war sehr kooperativ und erklärte mir, dass man von Mrs. Lopez seit ihrem Verschwinden nichts mehr gehört oder gesehen hätte. Es war nie Lösegeld gefordert worden. »Sie war eine echt liebenswerte Lady. Fast alle, die ich befragt habe, haben sie gemocht.«
Das Gleiche hatte ich über Elizabeth Connolly in Atlanta gehört.
Ich hasste diesen Fall schon jetzt, vermochte aber nicht, ihn aus meinem Kopf zu vertreiben. WeiÃes Mädchen. Die entführten Frauen waren alle liebenswert gewesen, richtig? Das war ihr gemeinsames Merkmal. Vielleicht war das das Muster der Entführer.
Liebenswerte Opfer.
Wie grauenvoll war das?
22
Als ich an diesem Abend heimkam â es war Viertel nach elf -, wartete eine Ãberraschung auf mich. Eine gute. John Sampson saà auf der Vordertreppe. In voller GröÃe, gut zwei Meter, hundertzehn Kilo Lebendgewicht. Auf den ersten Blick sah er wie der grimmige Sensenmann aus, doch dann grinste er und wirkte wie ein freundlicher Riese.
»Sieh mal an, wer da ist. Detective Sampson.« Ich lächelte zurück.
»Wie läuftâs denn so, Mann?«, fragte John, als ich über den Rasen zu ihm ging. »Du arbeitest ja wieder bis in die Nacht hinein. Wie früher, die alte Geschichte. Du änderst dich nie, Mann.«
»Das ist der erste späte Abend, seit ich in Quantico arbeite«, verteidigte ich mich. »Fang keinen Streit an.«
»Hab ich etwas Schlimmes gesagt? Habe ich dir den alten Spruch âºMit dem ersten Mal fängtâs immer anâ¹ vorgehalten,
der mir auf der Zungenspitze liegt? Nein, hab ich nicht. Ich bin richtig nett â für meine Verhältnisse. Aber da wir schon darüber reden â du kannst einfach nicht anders, richtig?«
»Willst du ein kaltes Bier?«, fragte ich und schloss die Vordertür auf. »Wo ist denn deine Braut heute Abend?«
Sampson folgte mir und wir holten uns ein paar Heineken aus dem Kühlschrank und gingen hinaus in den Wintergarten. Ich setzte mich auf die Klavierbank und John lieà sich im Schaukelstuhl nieder, der unter seinem Gewicht ächzte. John ist mein bester Freund, und das, seit wir zehn Jahre alt waren. Wir waren beide Detectives im Morddezernat und Partner, bis ich zum FBI wechselte. Deswegen ist er immer noch leicht sauer auf mich.
»Billie gehtâs prächtig. Sie hat heute und morgen Nachtschicht im St. Anthonyâs. Uns geht es gut.« Er leerte die halbe Dose Bier mit einem Schluck. »Keine
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