Vor dem Frost
einer Kirche.«
»Warum durfte ich nichts sehen, als ich herkam?«
»Nicht zu wissen kann eine Freiheit sein.« Sie wollte ihn mehr fragen, doch er hob die Hand. Sie zuckte zusammen, als sei er im Begriff, sie zu schlagen. Er begann damit, von dem zu erzählen, was bevorstand, und von dem, was geschehen war.
Er sprach wie immer, zuerst fast zögernd, mit langen Pausen, dann mit zunehmender Intensität. »Die Armee, die ich geschaffen habe, wird von Tag zu Tag größer. Die ursprünglich undisziplinierten Scharen werden zu Bataillonen anwachsen, die Bataillone zu Regimentern, und all die alten Fahnen, das wirkliche Gesicht des Christentums, werden wieder an der Spitze der Menschheit flattern. Wir streben eine Versöhnung an, die zwischen den Menschen und Gott zustande kommen muß, und die Zeit ist jetzt reif. Ich bin von Gott gerufen worden, niemand hat das Recht, einen Ruf, der direkt von Gott kommt, von sich zu weisen. Er fordert, daß ich diese wachsenden Regimenter führen soll, wir, die wir die steinernen Wände um die Leere im Innern der Menschen einreißen sollen. Einmal glaubte ich, daß ich gezwungen sein würde, diese Leere mit meinem eigenen Blut zu füllen. Jetzt weiß ich, daß Gott uns Hämmer gegeben hat, mit denen wir die Steinwände in unseren Seelen zerschmettern sollen. Jetzt ist bald der Tag und die Stunde gekommen, für die diese Bewegung geschaffen wurde. Der Augenblick, in dem die Christenheit und Gottes Geist endlich die Erde erfüllen. Von uns geht die Erlösung aus, von keinem sonst, und wir werden mit höchster Entschlossenheit jeden Widerstand zerschmettern, die Steinwände in uns und in allen Verführten, alle Irrlehren, die die Erde beschmutzen. Es gibt nur einen einzigen Gott, und er hat uns dazu auserwählt, die ersten zu sein, die die Barrikaden erklettern und zu Märtyrern werden, wenn es nötig ist. Wir müssen uns stark erweisen im Namen der Menschlichkeit, wir müssen die Kräfte des Dunkels erschrecken und zum Schweigen zwingen. Wenn eine dieser bösen Kräfte sich zum Menschen oder zu einem falschen Propheten erklärt und Bedingungen stellen will, so antworte ich: ›Warte ab und sieh, welche Bedingungen ich stelle.‹ Es muß so sein, meine Verantwortung, die ich direkt von Gott empfangen habe, kann nicht in Frage gestellt werden. Ich habe immer davon geträumt, ein ruhiges Leben in Anspruchslosigkeit und Einfachheit zu leben. Doch so war es mir nicht bestimmt. Und jetzt ist endlich die Zeit reif, um die Dammtore zu öffnen und das Wasser die Welt reinigen zu lassen.«
Er verstummte, und er tat dies abrupt, um zu sehen, wie sie reagierte. Er wußte, daß er Menschen am besten aus ihrer Schutzlosigkeit heraus deuten und lesen konnte.
»Einst hast du Sandalen gemacht, warst mein Vater und lebtest ein einfaches und anspruchsloses Leben.«
»Ich war gezwungen, meiner Berufung zu folgen.«
»Du hast mich verlassen, mich, deine Tochter.«
»Ich hatte keine andere Wahl. Aber in meinem Herzen habe ich dich nie verlassen. Und ich bin zurückgekommen.«
Er spürte ihre Anspannung. Dennoch kam ihre Reaktion für ihn überraschend.
Sie brüllte ihn an: »Ich habe Zebra gehört! Sie ist hier unter uns! Sie war es, die geschrien hat! Sie hat nichts getan!«
»Du weißt, was sie getan hat. Du selbst hast es erzählt.«
»Ich bereue, es gesagt zu haben.«
»Wer eine Sünde begeht und einen anderen Menschen tötet, muß seine Strafe erhalten. Es gibt eine Gerechtigkeit, und wir finden sie in der Bibel.«
»Zebra hat niemanden getötet. Sie war erst fünfzehn Jahre alt. Wie hätte sie es schaffen sollen, sich um ein Kind zu kümmern?«
»Sie hätte sich nie der Versuchung aussetzen sollen.«
Es gelang ihm nicht, sie zu beruhigen. Eine Woge von Ungeduld durchströmte ihn. Das ist Henrietta, dachte er. Anna gleicht ihr zu sehr, sie hat alle ihre Schwächen geerbt.
Er beschloß, den Druck auf sie zu verstärken. Sie hatte alles verstanden, was er in seiner Predigt gesagt hatte. Jetzt mußte er ihr erklären, welche Wahl sie hatte. Nichts war ohne Sinn. Auch nicht die Besorgnis, die er wegen Annas Freundin, der Tochter des Polizeibeamten, verspürte. Jetzt würde diese Besorgnis ihm die Möglichkeit geben, Annas Stärke zu erproben, ihre Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und die Handlungen, die er ihr auferlegte, auszuführen.«
»Zebra wird nichts geschehen«, sagte er.
»Was macht sie dann unten im Keller?«
»Sie wartet auf deine Entscheidung. Deinen Beschluß.« Er sah ihr
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