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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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jemand ertrinkt oder jemand wie du geboren wird.
    Als sie fertig war, wusch sie sich ausgiebig die Hände, wie um die letzten Reste des schlaffen Händedrucks des unangenehmen Schachspielers loszuwerden. Dann betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel, strich sich das Haar zurecht und nahm eine Wertung vor. Es war in Ordnung. Der Mund wie üblich zu streng, die Nase ein wenig bucklig, aber die Augen klar, und die Ebenmäßigkeit ihrer Zähne konnte Menschen neidisch machen. Es schauderte sie bei dem Gedanken, daß der Schachspieler versucht haben könnte, sie zu küssen, und sie eilte die Treppe wieder hinauf. Ein älterer Mann, der eine Kiste mit Kerzen trug, kam gerade herein. Sie hielt ihm die Tür auf und ging ihm nach ins Kircheninnere.
    Der Mann stellte die Kiste auf einem Tisch ab und drückte die Hände an den Rücken. »Gott sollte einen getreuen Diener vor Schmerzen bewahren«, sagte er.
    Er sprach leise. Linda begriff, warum. Sie waren nicht allein in der Kirche. In einer Bank saß eine einsame Person. Linda glaubte, einen sich zusammenkauernden Mann zu sehen, doch sie irrte sich.
    »Gudrun trauert um ihre Kinder«, flüsterte er. »Sie kommt jeden Tag her, das ganze Jahr. Wir mußten im Kirchenrat extra einen Beschluß fassen, hier offenzuhalten, damit sie hereinkommen kann. Ich glaube, es sind jetzt schon neunzehn Jahre.«
    »Was ist denn geschehen?«
    »Sie hatte zwei Jungen, die vom Zug überfahren wurden. Es war eine schreckliche Tragödie. Einer der Rettungssanitäter, die kamen und die Reste aufsammelten, verlor nachher den Verstand, habe ich gehört. Sie waren bei einem Einsatz. Plötzlich bat er den Fahrer, anzuhalten. Er stieg aus dem Wagen, ging geradeaus in den Wald und verschwand. Seinen Körper fanden sie erst drei Jahre später. Gudrun wird hierher kommen, bis sie stirbt. Wahrscheinlich stirbt sie da in der Bank.«
    Er nahm die Kiste mit den Kerzen wieder auf und verschwand den Mittelgang hinunter zum Altar. Linda ging hinaus in die Sonne. Der Tod ist überall, dachte sie. Er lockt mich und versucht, mich zu täuschen. Ich mag keine Kirchen, ich ertrage auch keine weinenden Frauen, die allein in Kirchen sitzen. Wie verträgt sich das mit meiner Entscheidung, Polizistin zu werden? Auch nicht besser als Annas Feststellung, daß sie kein Blut sehen kann oder Menschen, die auf der Straße umfallen. Vielleicht wird man aus dem gleichen Grund Ärztin, aus dem man Polizistin wird. Um zu sehen, ob man etwas taugt.
    Taugt wozu, dachte sie und ging auf den Friedhof. Zwischen Grabsteinen umherzuwandern war, wie zwischen den Regalen in einer Bibliothek zu gehen. Jeder Stein war wie der Deckel oder der Umschlag eines Buchs. Hier lag seit siebenundneunzig Jahren der Landwirt Johan Ludde begraben, zusammen mit seiner Ehefrau Linnea. Aber Linnea war nur einundvierzig, als sie starb, und Johan Ludde war sechsundsiebzig. In diesem ungepflegten Grab, vor dessen Stein die braunen Reste eines Blumenstraußes lagen, verbarg sich eine Geschichte. Sie blätterte zwischen den Buchtiteln und Umschlägen. Stellte sich einen eigenen Stein vor, den Stein ihres Vaters, die Steine aller ihrer Freunde. Aber nicht Birgitta Medbergs, das ging nicht.
    Ein Stein lag im Gras, fast überwachsen. Linda kniete nieder und strich Moos und Erde von dem Stein. Sofia, 1854-1869. Fünfzehn Jahre alt war sie geworden. Hatte sie auch auf einem Brückengeländer gestanden und geschwankt, aber niemanden gehabt, der ihr wieder herunterhalf?
    Linda ging weiter über den Friedhof. Sie dachte an das Wäldchen, das ihr Vater ihr gezeigt hatte, wo die Steine durch Bäume ersetzt waren. Wie sah ihr eigener Friedhof aus? Sie stellte sich vor, daß er wie die Landschaft war, die sie bei einem Ausflug in die Stockholmer Schären gesehen hatte. Das äußerste Schärenmeer, jenseits von Möja, wo Riffe, Holme und Schären nur wenig über die Wasseroberfläche hinausragten. Ein Archipel. Jeder Stein, jedes Riff wie die Bäume ihres Vaters. Ein Stein, ein Holm, ein Toter. Die Fahrrinne und die blinkenden Leuchttürme weisen den Weg.
    Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief beinah, fort vom Friedhof. Sie mußte dem Tod ausweichen; rief man nach ihm, so kam er. Die Kirchentür ging auf. Doch nicht der Tod kam heraus, sondern der Küster, jetzt mit Jacke und Mütze.
    »Wer war Sofia?«
    »Wir haben vier Tote mit Namen Sofia. Zwei, die uralt wurden, eine Dreißigjährige, die im Kindbett starb, und eine Fünfzehnjährige.«
    »Ich meine die Jüngste.«
    »Ich

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