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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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lässt, mit dem Raunen von Insekten, Wald und Wind, hier in der dunklen Weite, die sich um sie herum ausbreitet wie ein Brautschleier.

Der sechste Tag
    EINE RUHIGE HAND
    D ADDY ZERLEGT die Reste des Hühnerstalls. Die Hühner und der Hahn haben ihn schon lange verlassen. Nach Sommern mit schweren Regenfällen ist das Holz weich und faul geworden, und dann haben die kurzen, gnadenlos kalten Winter es ausgetrocknet und das Holzinnere ausgehöhlt, sodass der Stall schief wurde und allmählich in die Erde einsank. Früher war Mamas Wäscheleine daran befestigt; das andere Ende hing an einer Kiefer. Nach Mamas Tod hat Daddy die Wäscheleine an einem näher stehenden Baum angebracht, aber er hat sie nicht fest genug gespannt, und wenn Randall und ich Wäsche waschen und sie mit Holzklammern draußen aufhängen, dann gibt die Leine nach, und unsere Hosen schleifen im Schmutz.
    Skeetah hat bei den Hunden im Schuppen geschlafen, nachdem er gestern Abend Daddy mit dem Hammer gegenübergestanden hatte. Ich sitze auf dem Sofa am Wohnzimmerfenster und warte darauf, dass er hereinkommt; ich weiß, er wird ums Haus herumgehen und die Vordertür nehmen, um hinten nicht Daddy über den Weg zu laufen. Aber bisher ist Skeet nicht aufgetaucht. Er konnte immer am längsten die Luft anhalten, als wir anfingen, in der Grube baden zu gehen; er hockte auf dem schlammigen, von Gerümpel zerklüfteten Grund, während wir anderen ihn wie ängstliche Boote umkreisten, ihn an die Oberfläche riefen, aber er blieb, wo er war, und ließ in aller Ruhe Blasenaufsteigen. Ich mache öfter Pause und schmuggle Dosen mit Würstchen ins Badezimmer, wo ich alle fünf Stück sofort verschlinge. Sie sind so leicht, dass sie aus Luft sein könnten. Heute Morgen habe ich versucht zu lesen, dann aber bei der Suche nach dem Goldenen Vlies aufgehört, mal wieder abgelenkt von Medea, die nur noch an Jason denken kann, mit rotem Gesicht und brennendem Herzen, eingehüllt in süßen Schmerz. Die Göttin hat sie mit Liebe geschlagen, und nun hat sie keine andere Wahl. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Mein Bauch war wie ein Tier, und in meinem Kopf tauchten immer wieder Gedanken an Manny auf; ich hatte meinen eigenen zärtlichen Schmerz. Ich schob das Buch zwischen Wand und Bett, schlich in die Küche und klaute etwas von Daddys Hurrikan-Vorräten. Ich esse, aber nichts kommt in meinem Magen an, nichts sagt mir, dass er voll ist mit Essen, mit mehr als nur Essen.
    Klack, klack, klack
macht der Hammer. Das Holz knarrt. Ein Brett fällt runter. Daddy fängt an zu fluchen, beschimpft Hurensöhne, Arschlöcher und vertammte X-und-Ypsilons. Ich habe die Nase voll vom Warten. Ich greife mir noch eine Dose Würstchen und stopfe sie in die Tasche meiner Shorts. Ich werde zu Skeet gehen, wie Medea zu ihrem Bruder ging, bevor sie mit den Argonauten flohen. Ich werde meine Hilfe anbieten.
    Skeetah sieht aus, als hätte ihm jemand auf beide Augen gehauen. Der Klang von Daddys Hammer dringt abgehackt durch die Schuppentür. Er pulsiert gleichmäßig, wie Blut. China liegt auf der Seite, die Welpen quieken an ihren Zitzen. Ihr Kopf ruht auf ihren Pfoten, und sie blickt nicht auf, als ich über die Schwelle trete. Junior ist eine Krähe, er hockt neben der Tür auf einer Metalltonne und isst eine Packung Erdnussbuttercracker. Ich kriege Hunger.
    »Irgendwas stimmt nicht«, sagt Skeetah. Er sitzt auf dem Boden,mit dem Rücken an der Wand. Er lässt seinen Kopf nach hinten fallen, und sein Adamsapfel tritt so weit vor, dass er wie ein Knochen aussieht.
    »Was denn?«, frage ich. Seine Augen glänzen fiebrig.
    »Sie ist – zu entspannt. Normalerweise lässt sie sie trinken und stößt sie dann weg, sobald sie genug haben, aber jetzt saugen sie schon fast eine Stunde lang, und sie rührt sich gar nicht.«
    »Vielleicht ist sie ja bloß müde, wie du gestern meintest.«
    Daddys Hammer erschüttert den Raum.
    »Das ist es nicht.«
    »Was denn dann?«
    »Ich glaub, ich hab ihr zu viel gegeben.«
    »Du hast es gemacht, wie Manny gesagt hat.«
    »Woher willst du wissen, dass Manny sich auskennt?«
    »Rico hat es ihm vermutlich gezeigt.«
    »Und wer sagt, dass Rico ihm zeigt, wie man es richtig macht, wenn er weiß, dass Manny es mir zeigt?«
    »Das würde er nicht machen.«
    »Wer?«
    »Manny.« Ich verschlucke seinen Namen. Er kann nicht so fies sein. Das weiß ich.
    Skeetah spricht zur Decke, hat die Augen weit aufgerissen, die Ellbogen über die Knie gelegt und die Hände gefaltet;

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