Vor meinen Augen
flüsterte sie.
»Sprich nicht, sprich nicht. Heb dir deine Luft auf, bis jemand kommt.« Ich flehte um Hilfe. Alles, was ich sehen konnte, waren Rauch und die Schatten von Leuten um uns herum, die aufragten und wieder verschwanden. Ich hatte Angst, dass man über uns hinwegtrampeln würde. Ich drehte mich zurück zu Emily. Sie versuchte, nach Luft zu schnappen, machte diese kleinen, schnappenden Bewegungen mit ihrem Mund, wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Sie schaffte es, zu flüstern: »Tut weh.«
Sie holte zittrig Luft.
Und dann verdrehte sie die Augen.
Und dann hörte alles auf.
Ich schrie ihren Namen. Ich versuchte, ihr beim Atmen zu helfen, indem ich ihr Luft in den Mund blies. Ich versuchte, ihr Herz wieder zum Arbeiten zu bringen, indem ich auf ihren Brustkorb drückte. Ich schüttelte sie und hielt sie, und ich schrie.
Der große Typ stand neben mir. Blut lief von seiner Wange, der Schnitt sah aus wie von einem roten Tintenschreiber, wie ein fahriger Schriftzug. Er sagte: »Wir müssen hier raus.« Er blickte auf mich herunter, und seine Augen waren so mitfühlend, dass ich weinte.
»Ich muss bei ihr bleiben«, sagte ich, und Tränen liefen mir über die Wangen und tropften salzig in meinen Mund.
Er machte die allerwinzigste Kopfbewegung für ein Nein und sah mir weiter in die Augen. Er wiederholte: »Wir müssen hier raus. Du musst mitkommen.« Er fasste mein Handgelenk wie eine Fessel und zog mich mit sich.
Wir krochen halb aus dem Zug. Eine Frau hatte so viel Glas im Haar – sie sah aus wie eine verstaubte Schneekönigin. Ich fuhr mit der Hand durch mein eigenes Haar und merkte, dass es ebenfalls voller Glas war. Ich sah einen Mann auf den Gleisen liegen. Ich konnte nicht erkennen, ob er sich bewegte. Der große Mann hielt mein Handgelenk und folgte einem anderen, der eine orangefarbene Jacke trug. Wir waren gefangen in einem eigenartigen, schweigenden Fluss von Menschen. Ich schrie dem Mann in Orange zu: »Meine Schwester. Sie ist da hinten. Ich brauche Hilfe. Ich habe sie dort zurückgelassen.«
Eine Stimme kam über den Lautsprecher. »Bitte ruhig bleiben! Bleiben Sie bitte ruhig.« Dann riss die Stimme mit einem Lautsprecherknistern ab.
Ein Mann machte mit seinem Handy Fotos. Ein anderer rannte vorbei und schrie, er sterbe. Jemand weiter vorne hielt ihn auf und schrie: »Beruhigen Sie sich. Sie müssen sich beruhigen.«
Ich lief weiter. Der große Mann hatte seine Finger fest um mein Handgelenk gelegt. Wir stolperten durch den Tunnel und liefen dann eine Treppe hoch. Zweimal wehrte ich mich gegen ihn und versuchte umzudrehen, aber ich wurde weiter nach oben mitgezogen.
Wir traten hinaus in das Licht. Ich blinzelte. Sanitäter eilten umher. Blaulicht warf seinen Schein auf Dutzende von Menschen mit Blut auf den Gesichtern. Es war Blut auf dem grauen Asphalt unter meinen Füßen, und der Himmel über uns war wolkig, Gebäude füllten den Raum dazwischen. Neben mir stand eine Frau mit schwarzer Asche auf den Wangen, wie verschmierte Wimperntusche. Ich rieb über mein Gesicht und auf meinen Fingern lag die gleiche Schwärze.
Ich holte tief Luft und sah zu all den Leuten um mich herum. Ich stolperte in eine Richtung, hielt an und drehte mich um, wollte wieder nach unten gehen.
Ein Polizist sagte: »Da können Sie nicht hineingehen.«
»Emily«, flüsterte ich. Ich lief taumelnd weg von ihm. Eine Frau legte ihren Arm um meine Schultern, um mich zu führen. Ich ließ mich führen, und sie half mir in einen Krankenwagen. Ein Journalist hielt mir ein Mikrophon vors Gesicht, und ich drehte mich weg.
Ich musste ohnmächtig geworden sein, denn als ich aufwachte, lag ich in einem hell erleuchteten Raum im Bett. Ich blinzelte, um klar zu sehen.
»Was ist denn passiert?«, hörte ich eine Stimme, und es dauerte einen Moment, bis ich meine Mutter sehen konnte, die über mich gebeugt dastand, das Licht der Leuchtstoffröhren schien auf ihr Haar und die Augen. Sie sagte atemlos: »O mein Gott. Wie siehst du nur aus. Bist du in Ordnung? Ich bin gerade erst hier angekommen. Ich kann gar nicht glauben, dass ich dich gefunden habe.« Sie umarmte mich fest. Sie roch nach ihrem Parfüm, ihrem Shampoo.
Ich schob sie weg und sagte: »Wo bin ich?« Ich versuchte, mich aufzusetzen. »Was ist denn los?«
»Geht es dir gut? Es dauerte ewig, bis ich hier war. Ich war schon ganz verzweifelt. Wie geht es dir? Wo ist Emily?« Mums Augen waren feucht. »Ist sie bei dir?«
Ich schüttelte den Kopf.
Mum sagte:
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