Vorgetäuscht: Liebesroman (German Edition)
Yorker Hilton an der Ecke Fifty-second Street/Sixth Avenue. Ich sollte einen Vortrag über die soziale Stellungnahme persönlicher Essays halten, saß zusammen mit Maggie und Jayce in einer Podiumsdiskussion und hatte insgeheim noch drei Vorstellungsgespräche ausgemacht: zwei mit Unis in Neuengland und eines mit einer in San Diego. Nicht einmal Mags wusste, dass ich mich über Thanksgiving im Internet nach offenen Stellen umgesehen, meinen Lebenslauf aktualisiert und ich die Weihnachtsferien mit dem Verschicken von Lebensläufen, dem Vereinbaren von Vorstellungsterminen bei dieser Konferenz und dem Surfen auf den Webseiten der entsprechenden Unis verbracht hatte. Die ausgeschriebenen Stellen waren jeweils für die Leitung des Fachbereichs Kreatives Schreiben. Und da Mags und mein Lehrbuch im Herbst erscheinen sollte, waren meine Aussichten vielversprechend.
Devin war der Titel eingefallen. An einem regnerischen Herbstnachmittag, wir sahen uns gerade ein Gemälde von Picasso im MOMA an, platzte ich heraus: »Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt.«
»Wo hast du denn das aufgeschnappt?«, wollte Devin wissen.
»Es ist ein Zitat von Picasso, das dem Roman von Chaim Potok,
Mein Name ist Ascher Lev
, vorangestellt ist.«
»Ja, ich weiß natürlich, dass es von Picasso ist. Aber stimmst du damit überein?«
»Natürlich«, sagte ich.
»Warum?«
»Jede Kunst, sei es Schreiben, Malen, Filmen, Tanzen oder was auch sonst, ist eine Manipulation der Zeit und des Raumes. Sie ist eine Interpretation und eine Wiedererschaffung der Fakten, und sie benutzt unterschiedliche Verfahren, um uns auf unsere persönliche Wahrheit aufmerksam zu machen.«
»Nicht auf die Wahrheit des Künstlers?«
»Nein, eher auf unsere eigene«, antwortete ich. »Denk doch nur an den Essay von Lad Tobin, von dem ich dir erzählt habe, der über Pogo, den Clown, der ihn an seinem fünften Geburtstag zu Tode erschreckt hat. Sodass seine Eltern die Geburtstagsfeier absagen mussten. Er konnte sich nicht mehr an den Namen des Clowns erinnern, also dachte er sich einen aus. Und erinnere dich an Patricia Hampls Essay
Erinnerung und Imagination
. und an das Lehrbuch für Klavier von Thompson, in dem Sister Olive wirklich wie eine Olive aussieht, Mary Katherine Reilly – das alles sind Lügen, Artefakte, die uns auf eine persönliche Wahrheit hinweisen: erstens auf unsere Kindheitstraumata und zweitens auf Neid und Unsicherheit.«
»Aber das ist doch Tobins Trauma, oder etwa nicht? Seine Wahrheit. Und die von Hampl.«
»Okay«, fuhr ich fort, »dann nehmen wir doch mal Donald Murrays Essay
Zwiebeln und Orangen
. Murray behauptet, wenn wir die Geschichte eines anderen lesen, sei sie nun wahr oder erdacht, so lesen wir – und schreiben wir – unsere eigene. Mit anderen Worten ist alles Schreiben autobiografisch. Tobins Trauma mit Pogo, dem Clown, erinnert mich an Debbi DohertysGeburtstagsfeier, denn da gab es überall Luftballons, die von den Kindern zum Platzen gebracht wurden. Das ist meine Wahrheit.«
»Ja, und hieß sie wirklich Debbi Doherty?«, fragte er mich albern.
Ich sah ihn an und hob nur eine Augenbraue, als wollte ich sagen:
Das würdest du wohl gerne wissen.
Er ließ sein elektrisierendes Lächeln aufblitzen und zwinkerte mir zu. »Dieser Punkt geht an dich.«
Wir blieben vor einem Jackson Pollock stehen und schwiegen eine Minute.
»Macht das Lehrbuch Fortschritte?«, fragte er mich mit dem Blick auf das Gemälde.
»Mags recherchiert gerade noch etwas nach und ich redigiere es. Außerdem müssen wir die Einleitung und die letzten beiden Kapitel beenden.«
»Hm.«
Wir starrten das Gemälde an. Dann wandte er sich an mich.
»Und was für einen Titel habt ihr?«
»Dies Buch ätzt.«
Er brach in schallendes Gelächter aus, das von den Wänden widerhallte und von den Besuchern mit irritierten Blicken quittiert wurde. Er hielt sich die Hand vor den Mund und verschluckte den Rest seines Lachens.
»Weißt du, wir können uns auf keinen Titel einigen«, sagte ich. »Wir schwanken zwischen zu langweiligen, akademischen und zu eingängigen, kitschigen.«
»Hm.«
Wir gingen zum nächsten Pollock, standen davor und sahen das Bild schweigend an. Dann wandte er sich wieder an mich.
»Wie wäre es mit
Wahrheit, Lügen und Artefakte
?«
Kennen Sie die Befriedigung und die Freude, wenn man das letzte Teil in ein Puzzle steckt? Der Titel war absolut perfekt;er passte so gut, dass er das Bild vervollständigte. Es
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