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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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nur ab!«
    Ein paar spöttische Flocken trudelten immer noch wie kleine weiße Warnungen der Götter herab und schüttelten ihre winzigen gefrorenen Fäuste, als sie an meinem Fenster vorbeifielen.
    Es sah aus, als wäre das halbe Filmteam damit beschäftigt, ein Labyrinth aus Wegen zwischen den Lieferwagen und Lastern freizuschaufeln.
    Ich wühlte in einem Stapel alter Grammofonplatten (Daffy hatte mir erzählt, ich hätte, als ich noch klein war, immer »Grampophon« dazu gesagt), zog die gesuchte heraus und wischte den Staub an meinem Rock ab.
    Es war die »Morgenstimmung« von Edward Grieg aus seiner Peer Gynt Suite: ebenjenes Musikstück, das Rupert Porson (verstorben) als Eröffnung seiner Puppenvorstellung von Jack und die Bohnenranke letzten September im Gemeindesaal eingesetzt hatte.
    Es war nicht direkt mein Lieblingsstück für ein Morgenständchen, aber immer noch besser als »Bruder Jakob«. Abgesehen davon war dieses tolle Bild mit dem Hund auf der Platte, der den Kopf ein wenig zur Seite gelegt hatte und verdutzt der Stimme seines Herrn aus dem Trichter lauschte, ohne mitzukriegen, dass sein Herrchen eigentlich hinter ihm stand und ihn malte.
    Ich kurbelte das Grammofon kräftig an und setzte die Nadel auf die sich drehende Scheibe.
    »La-la-la-LAH, la-la-la, L A H-la-la-la«, sang ich bis zum Ende des Hauptthemas mit und setzte sogar die kleinen Triller an den richtigen Stellen.
    Dann drehte ich die Geschwindigkeit ein bisschen herunter, um der Trostlosigkeit des Tages gerecht zu werden. Sofort klang das Stück, als hätte das Orchester eine jähe Übelkeit befallen – als hätte jemand sämtliche Musiker vergiftet.
    Ich liebe Musik!
    Ich taumelte antriebslos durchs Zimmer, sackte zur langsamer werdenden Musik in mich zusammen wie eine Puppe, aus der das Sägemehl herausrinnt, bis die Feder des Grammofons völlig am Ende war und ich auf dem Fußboden zusammenbrach.
     
    »Ich hoffe bloß, du hast niemandem im Weg gestanden«, sagte Feely. »Du weißt ja, was Vater gesagt hat.«
    Ich ließ meine Zunge ganz langsam aus dem Mund kriechen, wie einen Regenwurm, der nach einem Platzregen an die Oberfläche kommt, aber es war vergebliche Liebesmühe. Feely hob nicht mal den Blick von dem Blatt, das sie sich durchlas.
    »Ist das deine Rolle?«, fragte ich.
    »Erraten.«
    »Zeig mal her.«
    »Nein. Das geht dich nichts an.«
    »Jetzt komm schon, Feely! Ich habe die Sache schließlich für dich arrangiert. Wenn du Geld dafür bekommst, will ich übrigens die Hälfte abhaben.«
    Daffy schob den Zeigefinger zwischen die Seiten von Bleak House und klappte das Buch zu.
    »›Im HG, US, legt ein Hausmädchen einen Brief auf den Tisch‹«, sagte sie in sachlichem Ton.
    »Das ist alles?«, fragte ich.
    »Das ist alles.«
    »Und was soll das heißen?«
    »Das heißt, dass im Hintergrund und im Unschärfebereich ein Hausmädchen einen Brief auf den Tisch legt. Steht doch da.«
    Feely tat beschäftigt, aber an ihrem sich rot färbenden Hals erkannte ich, dass sie sehr wohl zuhörte. Meine Schwester Ophelia ist wie diese exotischen Frösche, die zur Warnung ihre Farbe verändern. Der Frosch will einem damit weismachen, er sei giftig. Bei Feely ist es ähnlich.
    »Caramba! «, sagte ich. »Dann wirst du ja berühmt, Feely!«
    »Sag nicht › Caramba ‹«, schnauzte sie mich an. »Du weißt, dass Vater das nicht leiden kann.«
    »Er kommt heute Vormittag wieder«, erinnerte ich sie. »Mit Tante Felicity.«
    Nach diesen Worten senkte sich allgemeine Beklommenheit über den Tisch, und wir beendeten unser Frühstück in versteinertem Schweigen.
     
    Der Zug aus London sollte um fünf nach zehn in Doddingsley ankommen. Hätte Clarence Mundy sie mit seinem Taxi abgeholt, wären Vater und Tante Felicity eine halbe Stunde später auf Buckshaw gewesen. Heute jedoch würde es aufgrund des Schnees und des Leichenzugtempos, in dem der Vikar seinen Morris fuhr, höchstwahrscheinlich eine Stunde länger dauern.
    Tatsächlich war es schon Viertel nach eins, als der Morris des Vikars erschöpft vor unserer Tür hielt. Er war wie ein Fahrzeug in einem Flüchtlingstreck mit lauter seltsam geformten Gegenständen beladen, die aus den Fenstern ragten und auf dem Dach festgebunden waren. Vater und Tante Felicity stiegen aus. Ich sah sofort, dass sie sich gestritten hatten.
    »Um Himmels willen, Haviland«, sagte Tante Felicity aufgebracht, »jemand, der einen Bergfinken nicht von einem Buchfinken unterscheiden kann, sollte überhaupt nicht

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